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Warschau/Prag - Viel zu oft hat Stefan Kozlowski in den vergangenen Wochen und Monaten die Todesanzeigen ehemaliger Leidensgefährten gelesen oder ist an den Gräbern ehemaliger Konzentrationslager-Häftlinge gestanden. Den Nazi-Opfern läuft die Zeit davon, wird der Vorsitzende des polnischen Verbandes ehemaliger KZ-Häftlinge nicht müde zu betonen. Viele der alten Menschen, die oft nur eine kleine Rente beziehen und unter den gesundheitlichen Folgen der Lagerhaft leiden, warten seit Jahrzehnten auf Entschädigung für ihre Zwangsarbeit in der deutschen Wirtschaft.
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"Wir bekommen die Ungeduld zu spüren", gibt auch Karol Gawlowski von der Gesellschaft der durch Nazi-Deutschland Geschädigten zu. Seit Monaten sind die Mitarbeiter der Opferverbände damit beschäftigt, ehemaligen Zwangs- und Sklavenarbeitern bei ihren Entschädigungsanträgen zu helfen. Für Tausende der Nazi-Opfer wird das Geld zu spät auf die Konten fließen, auch wenn sich der Stiftungsrat der Stiftung deutsch-polnische Aussöhnung am Freitag der Vorwoche auf eine erste Abschlagszahlung in Höhe von 1.400 Zloty (rund 358 Euro/4.900 S) für die ältesten Opfer einigte, sollten die letzten Sammelklagen in den USA nicht zurückgewiesen werden.
"Das ist der letzte Ausweg, den wir uns offen gehalten haben", sagte der Stiftungsvorsitzende Bartosz Jalowiecki und sprach von einer "dramatischen Entscheidung". Einige der Opferverbände gaben erst nach stundenlangen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ihre Zustimmung. Sie wollen so schnell wie möglich die volle Entschädigung der Opfer und kein "Almosen". Ihren Unmut bekam auch Wolfgang Gibowski, der Vertreter der deutschen Wirtschaft, in dieser Woche in Warschau zu spüren. "Es war immer unser Wunsch, dass die Lebenden und nicht ihre Erben das Geld erhalten", zeigte er Verständnis für die wachsende Ungeduld.
Auch in Prag ist hinsichtlich der einst als "historische Geste der Deutschen" bezeichneten Entschädigung längst große Ernüchterung eingetreten. Und nachdem US-Richterin Shirley Kram bei der jüngsten Verhandlung mit dem Erteilen der "Rechtssicherheit" für deutsche Unternehmen erneut zögerte, ging der tschechische Rat der NS-Opfer in die Offensive: In einem Aufsehen erregenden Brief bittet der Verband nun Bundeskanzler Gerhard Schröder innerhalb von zwei Wochen um ein klares Wort angesichts der Verzögerung der Entschädigung.
Das Mitverfassen des Schreibens muss Vorstandsmitglied Karel Ruzicka viel Überwindung gekostet haben. Dem 77-Jährigen ist eine öffentliche Auseinandersetzung zuwider, ihm wäre eine gütliche Einigung lieber gewesen. Da er aber die Entschädigung in einer Patt-Situation glaubt, hatte er keine Alternative zu dem ungewöhnlichen Brief gesehen: "Deutsche Firmen wollen erst Rechtssicherheit, und Gerichte wollen erst Auszahlung. So geht das Monat für Monat, und Tausende sterben", sagt Ruzicka nicht ohne Bitterkeit.
In Tschechien warten derzeit etwa 60.000 ehemalige Zwangsarbeiter auf die Auszahlung, offiziell rechnet man bis zum Anmeldeschluss im August 2001 mit etwa 80.000 Anträgen. Aber allein in Tschechien sterben täglich etwa 15 ehemalige Zwangsarbeiter. Sie sind übrigens nicht die einzige Opfergruppe, die eine Zahlung erhalten wird: In einem bemerkenswerten Schritt sollen auch deutsche Antifaschisten in den Reihen der deutschen Minderheit in Tschechien Geld erhalten - wenn es denn endlich in Prag eintrifft.