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Den Wundern auf der Spur

Von Christa Hager

Wissen

Wunder als Gottesbeweis, als Vorzeichen, als Unterhaltung oder als wissenschaftliche Herausforderung


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Ein Wunder? Donato Creti zeigt gegen 1749 eine idyllische Himmelsbeobachtung.
© Corbis

Und es gibt sie doch, die Wunder. Wunderkinder zum Beispiel sind ebenso real wie die Wunderkammern mit ihren Elfenbeinschälchen und vergoldeten Rhinozeroshörnern. Oder wie die Wunderblume, die in der Nacht blüht, und der Fisch, der in der Nacht leuchtet, Wunderlampe genannt. Egal ob Objekt oder Subjekt, all diesen Wundern ist gemein, dass sie bis heute das Gewohnte, das Übliche so weit übertreffen, dass sie Bewunderung auslösen und die Menschen in Staunen versetzen können.

Wunder sprengen aber auch Grenzen und nutzen ihr explosives Potenzial, um all das zu bezeichnen, was in unserer Welt aus dem Rahmen fällt: von der unerklärlichen Heilung, dem unglaublichen Naturschauspiel und dem wundersam Fremden über die unverhoffte technische Innovation, die künstlerische Idee bis hin zum bloßen Zufall. Wunder gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen und Zeiten, sie prägten christliche Religion ebenso wie antike Naturphilosophie. Und die Menschen in Staunen versetzen, das schaffen die Wunder heute ebenso wie in der Antike oder im Mittelalter.

Schon Herodot, der Geschichtsschreiber der Antike, dokumentierte wundersame und wunderbare Erscheinungen. Von ihm ist die älteste Liste der sieben Weltwunder, der imposantesten und prunkvollsten Bauten der Antike, überliefert. Seither finden sich Wunder aller Art in Literatur und Chroniken, Enzyklopädien wieder – ihre Dokumentation zählte zur Kerntradition des mittelalterlichen Nachdenkens über Wunder. Als besonderes Beispiel wäre hierbei die Hereford- Weltkarte zu nennen: Auf etwas mehr als einem Meter zwanzig Breite beschreibt das größte erhaltene Exemplar der mittelalterlichen Weltkarten wie bereits zuvor die Paradoxografen der Antike, die Listen über wunderbare Tatsachen führten, die topographischen Wunder als Randbezirke der Welt. Wie der geflügelte Salamander, die anthropomorphe Alraune, der kopflose Nomade, der einbeinige Fabelwesen oder die zwittrigen Androgynen zeigen,wimmelte es demnach in Afrika nur so von wunderbaren Pflanzen, Tieren und wundersamen Menschenwesen.

Das Lächeln<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Doch die Menschen des Mittelalters mussten nicht in die Ferne schweifen, um wundersame Erscheinungen zu sehen. Glaubt man Jacques de Vitry, dem Bischof von Acre, staunten damals die Menschen Europas nicht schlecht über die Mitternachtssonne über Island, den feuerspeienden Ätna auf Sizilien, über Männer mit Tierschweifen in Britannien und Frauen mit riesigen Kröpfen in den burgundischen Alpen. Ungewöhnlicher und vor allem furchterregender waren da schon die blauen Wunder, die als Prodigien die Menschen des Mittelalters beschäftigten. In Zeiten der Pest oder des Krieges zum Beispiel galten Wunderlichkeiten wie eine zweiköpfige Katze oder eine Sternschnuppe als schlechtes Vorzeichen, während diese Erscheinungen ein andermal wohl höchstens schwaches Interesse hervorriefen.

Sternspritzer, auch Wunderkerze genannt.
© © by-studio - Fotolia.com

Als unheilvolles Vorzeichen ist uns zum Beispiel eine Kometenerscheinung aus dem Jahr 1066 überliefert, als der Normannenherzog Wilhelm der Eroberer England einnahm. Auf einem bis heute erhaltenen Wandteppich aus dem 11. Jahrhundert sieht man eine Gruppe Engländer, die sich über einen vom Himmel fallenden Stern wundern, in einer nächsten Szene betritt der Eroberer die Insel. Heute weiß man: Der fallende Stern, das war der Halley'sche Komet. Streng genommen sind Wunder eine Erfindung der frühen Neuzeit. Darauf weist das deutsche Wort Wunder hin, daswahrscheinlich vom englischen wonder abstammt und in seiner Bedeutung erst im Hochmittelalter im deutschen Sprachraum dokumentiert ist.

Doch welche Wörter benutzten die Menschen Europas im Mittelalter für ihre "Wunder" und "Verwunderungen"? Auf Lateinisch hieß die Gefühlsbewegung selbst "admiratio", die Gegenstände, die Verwunderung auslösten, hießen wiederum "miracula" oder "mirabilia". Diese Wörter haben ihre Wurzeln wiederum in einem indoeuropäischen Wort für "Lächeln". Anders als im Deutschen blieb diese etymologische Verbindung zwischen Wundern und Lächeln in anderen Sprachen erhalten, wie das französische "merveille" oder das englische "marvel" zeigen. Die Worte für die Empfindung und die Erscheinung von Wundern sind zwar nicht identisch, aber dafür eng verwandt – und was diese enge Verbindung andeutete, ist die enge Verbindung zwischen der subjektiven Erfahrung und den Objekten, auf die sie sich bezogen. Ein Mirakel zauberte mitunter ein Lächeln auf das Gesicht des Betrachters – wohl angesichts der Göttlichkeit, die sich laut damaliger Auffassung in ihm widerspiegelte.

Im Unterschied dazu bezeichneten Wunder ausschließlich außergewöhnliche Erscheinungen aus der weltlichen Wunderwelt – im Unterschied dazu standen die übernatürlichen Wunder, die man Gott zuschrieb. Und diese hießen Mirakel. Bis ins 17. Jahrhundert blieb diese strenge Trennung bestehen. Mirakel galten als das echte Übernatürliche, als gottgewollte Erscheinungen und als Gottes unmittelbare Handlung, während außernatürliche Wunder Randerscheinungen der  göttlichen Ordnung waren, wie beispielsweise sechs Finger an einer Hand.

Erhellende Chance

Es ist wohl auch kein Zufall, dass im 13. und 14. Jahrhundert diese außernatürliche Erscheinungen als Bestandteile der gottgewollten Ordnung kaum genauer studiert wurden. Sie galten als Anomalien, als Ausnahmen des Natürlichen. Erst im 16. Jahrhundert begannen Naturwissenschafter sich vermehrt für diese Randphänomene zu interessieren. Aus dem Bizarren entwuchs Schritt für Schritt eine neue Sicht auf die Welt: Außernatürliche Phänomene wurden von der religiösen Bedeutung befreit, sie wurden Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung und zum Mittel, die Wirklichkeit zu erklären. Im 17. Jahrhundert war dieser Wandel vollzogen.

Die Pyramiden von Gizeh standen lange Zeit im Ruf eines Wunders.
© Corbis

Staunen und Wundern spornten von nun an Nachforschungen an, sie sorgten dafür, dass die Pfade des Gewohnten und Bekannten verlassen wurden. Dies ging sogar so weit, dass der Naturforscher Robert Boyles trotz Schnupfen und fortgeschrittener Zeit Mitte des 17. Jahrhunderts nächtelang mit großer Begeisterung über ein Stück Kalbsfleisch wachte und selbst noch in den Morgenstunden Vergnügen daran fand. Denn der Fleischbrocken war kein gewöhnliches Stück Fleisch: Er leuchtete nämlich im Dunkeln!

Der Mitbegründer der modernen Physik und Chemie Boyles schrieb über sein Erlebnis mit der Kalbshaxe in sein Tagebuch: "Gestern, als ich mich anschickte, zu Bett zu gehen, setzte mich ein Amanuensis [ein Sekretär, Anm. der Verf.]… davon in Kenntnis, dass eines der Hausmädchen … vor einer leuchtenden Erscheinung in Schrecken geraten sei, die es just an der Stelle erblickte, an der zuvor das Fleisch aufgehangen worden. Daraufhin schickte [ich] auf der Stelle nach dem Fleische, das ich auf meine Kammer bringen und alsbald in den Winkel eines Zimmers hängen ließ, das eine beträchtliche Verdunklung gestattete, und dann sah ich nur allzu gut, mit Verwundern und Entzücken zugleich, dass dieses Bratenstück an diversen Stellen leuchtete wie moderndes Holz oder ein fauler Fisch…"

Der Glaube an Wunder ist bis in unsere Tage lebendig geblieben.
© Corbis

Das Phänomen des leuchtenden Fleisches ist übrigens auf Bakterien zurückzuführen. Die sogenannten Pseudomonas fluorescens sind Mikroorganismen, die oft in Fleisch und Fisch hausen. Sie sind für den Menschen unbedenklich, vermehren sich aber rasant und deuten auf Fleisch hin, das zu faulen beginnt. Leuchtendes Fleisch sollte daher besser weggeworfen werden. Wegbereiter für diesen Paradigmenwechsel, die man nun den Wundern mit Neugierde entgegenbrachte, war der Philosoph und Staatsmann Francis Bacon.

Der Begründer der neuen Naturwissenschaften hatte bereits rund 100 Jahre vor Robert Boyles Wunder als erhellende Chance für die Wissenschaft erkannt und damit begonnen, von der Natur abweichende Exemplare zu sammeln, Monstren zum Beispiel, die die "gewohnte Straße der Natur verlassen hatten", wie er schrieb.

War für die Naturforscher des Mittelalters und der frühen Neuzeit alles Außernatürliche nicht der Rede wert, liefen diese doch der Ordnung der Natur zuwider, verloren durch Bacon diese Wunder ihren Status als Randphänomene und öffneten der Wissenschaft Tür und Tor. Man sieht: Wunder als  Leidenschaft und Erkenntnis sind keine zwei entgegengesetzten Pole, sondern zwei Seiten einer Medaille.

Und in all den Jahrhunderten sind Wunder nicht ausgestorben, die Objekte des Staunens und Wunderns haben sich nicht allzu sehr geändert: In Lake eingelegte Missgeburten erregen nach wie vor die Neugierde der Menschen, Meteoritenschauer entzücken weiterhin und so manche Fastenkur soll Wunder wirken! Selbst Berichte erschreckter Karnivoren über leuchtendes Fleisch schaffen es heute noch bis in die Medien. Und wenn das Nordlicht den Himmel mit irisierenden Vorhängen erfüllt, staunen ebenfalls nicht wenige.

Wunder begleiten uns auch in dieser Zeit, es kommt allerdings darauf an, wie die Menschen mit ihnen umzugehen gedenken: ob sie dazu tendieren Wunder als Vorzeichen zu deuten, unhinterfragt an sie zu glauben, sie als Flucht aus der Realität zu nutzen, oder ob sie für weitere Investigationen wider den geistigen Stillstand herangezogen werden, um ihnen auf die Spur zu kommen. Denn so viel steht fest: Wissen kommt von Wundern und ohne Wundern, ohne Neugierde, würde die Welt heute ganz anders ausschauen.

Artikel erschienen am 21. Dezember 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-7.

Mehr über die Welt der Wunder im wundervollen Dossier.