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Denken, die Quelle aller Missverständnisse

Von Michael Hafner

Reflexionen

Sogenannte Selbst- und Querdenker blenden gerne die Grundlagen geistiger Tätigkeit aus. Eine Analyse.


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Denken, das klingt für manche vielversprechend. Gedanken schrauben sich in lichte Höhen, erschließen unberührtes Neuland. Denkende erkennen Unerkanntes und sichern sich damit - ja was eigentlich?

Denken ist in Mode. Denkerinnen und Denker tingeln gut frisiert durch Talkshows, werden hinzugezogen, wenn politische Gesprächsrunde festzustecken drohen, oder sind Aufputz großer Businessevents. Ehemalige Journalisten sammeln mit Aufrufen zum "Selberdenken" neues Publikum und beschäftigen die neugewonnene Hörer- und Leserschaft je nach Geschmacksvorlieben mit politischen Verschwörungstheorien oder vermeintlichem Wirtschafts-Spezialwissen. Und rabiate Hetzerinnen und Hetzer nennen sich Querdenker und verrennen sich in ihren Gedanken in angst- und hasserfüllte Visionen.

Auf großer Irrfahrt

In den ersten Momenten fühlt sich Denken vielleicht an wie Radfahren ohne Stützräder: Man kommt voran, auch ohne helfende Hand im Rücken. Man kann selbst entscheiden, wie schnell man fahren und in welche Richtung man abbiegen möchte. Allerdings zeigt sich bald nach der ersten Euphorie, dass es auch für diese Freiheit Grenzen gibt: Sie lenken und beschränken den Spaß in Form von Verkehrsregeln und Hindernissen.

Beim Radfahren machen sich Grenzen und Regeln deutlich bemerkbar: Die Polizei verteilt Strafzettel; wer Wände oder Abgründe ignoriert, riskiert blutige Knie. Beim Denken rächt es sich nicht so unmittelbar, wenn die grundlegenden Regeln ignoriert werden. Was gesagt werden kann, kann gedacht werden, denn auf den ersten Blick unterscheiden sich Sätze, die sich als Gedanken ausgeben, gar nicht von diesen.

Dem liegt ein erstes Missverständnis zugrunde. Denken als das bloße Vorhandensein von Gedanken sei etwas Ähnliches wie Verdauung. Es passiere einfach, egal ob die Denkenden oder Verdauenden das möchten.

Aber welche Regeln verwandeln Gedanken in Denken? Über dieser Frage sind Philosophen in ihren Tonnen vereinsamt, andere haben die Antwort in großen Systemen zu Logik und Erkenntnistheorie gesucht. Systematische Philosophie ist aus der Mode. Diese Disziplin des Denkens, das seine eigenen Grundlagen ergründet, ist in Verruf geraten. Nachdenklichkeit ist ein Synonym für Traurigkeit.

Die Regeln des Denkens sind Werkzeuge, keine Werke. Die Beschäftigung mit Denken liefert Hinweise drauf, was sinnvoll gedacht werden kann. Quer- und Selbstdenker indes verändern die Grundzüge des Denkens: Es beschäftigt sich nun nicht mehr mit seinen eigenen Grundlagen und Möglichkeiten. Es soll stattdessen Handlungsanleitungen liefern, Hinweise auf das gute und schöne Leben. Antworten sind erwünscht, nicht Fragen. Schon gar nicht Richtlinien, innerhalb derer sinnvoll gedacht werden kann. Am beliebtesten sind Antworten, die sich in Imperativen formulieren lassen: Lebe so! Handle so! Werde glücklich!

Das ist ein zweites Missverständnis. Es führt dazu, dass auch Menschen, die beginnen, sich für Philosophie zu interessieren, Antworten wollen. Sie suchen Bücher über gelingendes Leben, Antworten in politischer Philosophie oder Argumentationshilfen, um moralische Überlegenheit zu gewinnen.

Beim Denken stellt man auch Hypothesen in den Raum. Diese dienen dazu, sich neuen Angriffen auszusetzen. Das erfordert Bescheidenheit. Ein wichtiges Merkmal dieser Bescheidenheit ist es, weniger Antworten zu geben, sondern länger bei den Fragen zu bleiben.

Fragen statt Antworten

In Philosophencafés, die zuletzt (vor Corona) eine eindrucksvolle Renaissance erlebten, beobachten neugierige Gäste, wie unterschiedliche Geisteswelten aufeinanderprallen: Hier sitzen jene, die Fragen suchen. Für sie bedeutet die Beschäftigung mit einem Problem, die richtigen Fragestellungen und Blickwinkel zu finden, mit denen sich Neues über die Ausgangslage herausfinden lässt.

Auf der anderen Seite sitzen jene, die Antworten möchten, für die die Disziplinen der Philosophie Probleme lösen sollen. Sie müssten allerdings, halten ihnen die anderen entgegen, zuerst einmal die Frage stellen, mit welcher Disziplin der Philosophie sie denn ein Problem bearbeiten möchten: Ist es eine Angelegenheit der Logik? Bearbeitet man hier ein ethisches Problem? Haben wir es mit Erkenntnisfragen zu tun? Und dazwischen sitzen jene, die viel gelesen haben und Antworten in pointierten Zitaten vermuten, die sie aus dem Stegreif rezitieren können. Sie setzen auf Fertigteil-Antworten.

Je weniger Fragen gestellt werden, desto direkter, schneller und klarer können Antworten gegeben werden. Das wirkt gelegentlich überzeugend. Diese Antworten belasten sich nicht mit Logik, Geschichte oder Tatsachen. Sie stehen für sich. Sie behaupten sich selbst entgegen allen Fragen, sie behaupten ihre Position über Einwände, die sie bevorzugterweise ignorieren.

Selbst- und Querdenker sind Meister dieser Technik. Ihre Antworten sind Behauptungen, ihre Argumentssurrogate sind "Ist halt so" und "Denk mal nach". Behauptungen sind in sich geschlossene Systeme, die keiner weiteren Begründung bedürfen. Sie speisen sich selbst aus Andeutungen, gezielten Missverständnissen und suggestiven Unterstellungen.

Das ist das Verlockende am Selbst- und Querdenken: Behauptungen kann schwer widersprochen werden. Sie treiben alle, die sich damit auseinandersetzen wollen, in die Defensive. Behauptungen kennen keine Prämissen, keine Bedingungen und keine Schlüsse. Sie begnügen sich mit Forderungen.

"Ist halt so" als Argumentssurrogat begegnet uns bei Geheimniskrämern, Aktivisten und Agitatoren gleichermaßen. Sie haben verstanden, dass jede Beschäftigung mit Einwänden oder Kritik erst einmal die Position des Kritisierenden stärkt. Deshalb lassen sie sich gar nicht auf solche Details ein. "Denk mal nach" schlägt in die gleiche Kerbe: Es bedeutet nicht viel anderes als: "Folge meinen Behauptungen, folge den Spuren, die ich ausgelegt habe, in mein Labyrinth." Dort wird es dann immer unübersichtlicher.

Beliebte Denkfiguren

Manchmal gelingt es, auch überzeugt Behauptende in die Enge zu treiben. Meist dann, wenn sie sich irrtümlicherweise Formulierungen oder Satzkonstruktionen bedienen, die Grundzüge der Logik bedingen, oder wenn sie unvorsichtigerweise Prämissen formulieren, die leicht und überzeugend als falsch ausgewiesen werden können. Auch dann bleiben sie aber noch in der Pose des Denkers. Dann wollten sie Denkanstöße liefern, zur Diskussion anregen. Sie wollten Denkverbote nicht einfach so im Raum stehen lassen. Denkverbote sind eine beliebte Denkfigur der Selbst- und Querdenker, die ihnen hilft, ihren Behauptungen eine moralische Komponente zu verleihen. Das macht sie zu Freiheitskämpfern. Im besten Fall nehmen Selbst- und Querdenker die Rolle des Kindes im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ein: Sie sprechen das Offensichtliche aus. In ihrer Selbstsicht folgen sie dabei der Moral des Märchens: Problem gelöst, von nun an können alle glücklich und zufrieden leben, und wenn sie nicht gestorben sind...

Leider hat aber auch das Kind im Märchen kein Problem gelöst. Es hat die Aufmerksamkeit auf eines von vielen Symptomen eines Problems gelenkt und damit dazu beigetragen, das Problem zu festigen. Der Kaiser ist nach wie vor Kaiser, und jene, die als mehr oder minder unglückliche, unterdrückte Untertanen gelebt haben, haben nun einen Grund mehr, sich zu genieren.

Selbst- und Querdenker arbeiten nicht an Lösungen, sie arbeiten an der Reproduktion von Problemen. Die lautesten vermeintlich originellen Querdenker sagen, was ohnehin alle sagen. Deshalb hallt es in deren Ohren auch so gut wider. Das sichert den Behauptenden, die sich als Denkende ausgeben, Widerspruchsfreiheit.

Regeln des Dialogs

Widerspruchsfreiheit - das klingt vorerst schlüssig. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist eine der Grundlagen funktionierenden Denkens. Etwas kann nicht wahr und gleichzeitig falsch sein - darauf kann man aufbauen. Der Widerspruch, den entschlossen Behauptende ausschließen, ist allerdings kein logischer. Es ist die Widerrede. Antworten sind nicht vorgesehen, Fragen auch nicht. Die Aussagen der Entschlossenen stehen für sich allein. Fragen werden als unzulässige Angriffe, geradezu als Beleidigungen empfunden. Das ist das dritte Missverständnis.

Denken funktioniert nur als Dialog. Das kann ein Selbstgespräch sein, in dem Positionen in Frage gestellt, neu formuliert, verändert oder verworfen werden. Das Selbstgespräch muss aber den Regeln des Dialogs folgen, in dem Aussagen Anknüpfungspunkte bieten. Aussagen dagegen, die unangreifbar scheinen, bedienen sich keiner Argumente. Sie sind Geheimwissen und Versteckspiel. Sie genügen der Form, sie machen Eindruck, sie sind gelungenes Posing. Das kann erfolgreich sein, hat aber mit Denken nichts zu tun.

Die Philosophin Hannah Arendt beschrieb das Fehlen anschlussfähiger Positionen und die Weigerung, Stellung zu beziehen und konkret und angreifbar zu werden, als den "Horror des Bösen". Die Weigerung, zu urteilen, Beispiele zu wählen, mit Tatsachen und anderen Menschen in Beziehung zu treten, erzeuge die großen zwischenmenschlichen Stolpersteine - das eigentlich Unfassbare, das keine Anknüpfungspunkte bietet. Hinter solchen Stolpersteinen entziehen sich Selbst- und Querdenker jeder Diskussion ihrer Positionen und jeder Verantwortung dafür. Sie geben ja nur Denkanstöße, sie wollten bloß anregen. Und so schaffen sie es auch, Hetze und Propaganda als Denken tarnen zu können.

Michael Hafner, geboren 1973, schreibt über Literatur, Philosophie und Reisen.