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Denken ist brutal

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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"Das Denken ist brutal, es kennt keine Schonungen. Was ist brutaler als ein Gedanke?" Der Satz und die Frage stammen vom Philosophen und Essayisten Paul Valéry, und sie beschreiben trefflich das Dilemma, in dem der Mensch steckt, wenn er sich selbst zu erklären versucht.

Über den Zusammenhang von Religion und Gewalt ist schon viel nachgedacht worden, manchmal tiefschürfend, oft nur oberflächlich.

Karfreitag und Ostern, das höchste Fest der Christen, eignen sich für einen erneuten Versuch, da einen angesichts der Nachrichtenlage das Gefühl beschleicht, die religiös motivierte Gewalt eile von einem Blutbad zum nächsten. Gewiss geschehen diese Untaten im Namen eines pervertierten Islam, doch werden die Religionen von ihren Kritikern längst alle in einen Topf geworfen.

Ob allerdings eine Welt ohne Religion ein besserer, ein - im besten Wortsinn - menschlicherer Ort wäre? Das sollte doch bezweifelt werden, selbst wenn eine solche Welt theoretisch möglich wäre. Natürlich verlangt eine säkulare, noch dazu religiös vielfältige Gesellschaft wie die unsrige nach einem belastbaren ethischen Normengerüst, das nicht nur in Gesetzesform gegossen, sondern auch im Rahmen des Bildungssystems vermittelt wird.

Aber, und das ist entscheidend: Ethik ist - für gläubige Menschen jedenfalls - kein Ersatz für Religion. Viel spricht dafür, dass das Bedürfnis nach religiösen, sinnstiftenden Überzeugungen ein Wesensmerkmal unserer menschlichen Natur ist. Das Problem mit einer konsequent zu Ende gedachten Säkularisierung ist, dass Religionen ihrer transzendenten Wahrheit entledigt werden, wenn die Konstruktion und Kodifikation von Glaubenssystemen ausschließlich in ihrem historischen Kontext analysiert werden. Es besteht deshalb das Risiko, dass der Prozess der Säkularisierung, radikal zu Ende gedacht, in der ethischen Sackgasse des Nihilismus endet.

Die Möglichkeit, dass nach dem Tod das Nichts wartet, mag für einige wenige erträglich sein, für die meisten ist es ein unerträglicher Gedanke. Religiöse Menschen finden Trost in ihrem Glauben, allen anderen bleibt die säkulare Ethik.

Allerdings, so gibt der Skeptiker Rudolf Burger mit Blick auf die säkular betriebenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu bedenken: "Die Überwindungen sind allemal schlimmer als das Überwundene."