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Denkerin des Andersseins

Von Nikolaus Halmer

Reflexionen

Judith Butler gilt als Star des Feminismus und der Gender-Theorie. Ihre Vorträge haben Event-Charakter und finden ein begeistertes Publikum. Am 24. Februar wird die engagierte Philosophin 60 Jahre.


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"Wir alle sind seit der Geburt von Geschlechterrollen geprägt, die unser Handeln bis heute bestimmen" - von dieser Grundthese geht die Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler aus. "Wir haben gar keine Möglichkeit, autonom unser Handeln zu bestimmen", führt Butler ihre These weiter aus, "unser Handeln wird immer schon von gewissen sozialen Normen konditioniert."

Für Butler existiert so etwas wie Handlungsfreiheit gar nicht. Jedes Individuum muss sich an die sozialen Normen der Gesellschaft anpassen. Ein Subjekt zu sein bedeutet, sich der symbolischen Ordnung der jeweiligen gesellschaftlichen Formation zu unterwerfen. Butler selbst lehnt solch einen Unterwerfungsakt ab; sie will nicht durch Positionierungen festgelegt werden. "Identitätskategorien machen mich immer nervös, ich empfinde sie als ständige Stolpersteine", bekennt sie.

Judith Butler wurde am 24. Februar 1956 in Cleveland/Ohio in eine bürgerliche jüdische Familie geboren und entdeckte schon früh ihre Neigungen für die Philosophie. Auf die Frage, welchen Beruf sie ergreifen wolle, antwortete sie: "Philosophin oder Clown". Den ersten Berufswunsch erfüllte sie sich durch Studien an der Yale University und in Heidelberg, wo sie Vorlesungen des legendären Philosophen Hans-Georg Gadamer hörte. Mit einer Dissertation über das Begehren bei Hegel beendete sie erfolgreich ihr Studium und erhielt Berufungen an verschiedene Universitäten. 1993 wurde sie auf den Lehrstuhl für Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Berkeley berufen, wo sie bis heute tätig ist.

"Sex" und "Gender"

Die wesentlichen Motive ihres Denkens liegen jedoch im außeruniversitären Bereich. Bereits als Jugendliche las sie im Selbststu-dium die Schriften von Spinoza, Kierkegaard und Hegel und verbrachte zahlreiche Abende in Homosexuellen-Lokalen, in denen damals bereits Drag Queens auftraten. Durch die Performance von Männern, die sich als Frauen verkleideten, kam ihr der Gedanke, dass das Geschlecht nicht biologisch festgelegt sei, sondern vielmehr eine soziokulturelle Konstruktion darstelle.

Diese Intuition war das Fundament für Butlers später erfolgte Unterscheidung zwischen "Sex" und "Gender" - zwischen biologischem und sozio-kulturell kons-truiertem Geschlecht, die sie in ihrem Buch "Das Unbehagen der Geschlechter" entfaltet hat. Dabei bezog sie sich auch auf den Leitgedanken von Simone de Beauvoir ("Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man"), der die Geschlechterrolle als das Produkt eines Zivilisationsprozesses fasst, der vom männlichen Herrschaftsdenken bestimmt wird.

Butler geht von der Grundüberlegung aus, dass der Mensch als soziales gesellschaftliches Wesen immer von anderen Menschen geprägt wird. Ein Subjekt zu sein bedeutet, sich in ein gesellschaftliches Normengefüge einzuordnen; sich einer symbolischen Ordnung zu unterwerfen. Erst durch diese Unterwerfung erfährt das Subjekt gesellschaftliche Anerkennung. Die Hauptaufgabe ihrer theoretischen Arbeit sieht Butler in der Analyse jener sozialen/gesellschaftlichen Mechanismen, die das Subjekt, dem sie eine autonome Verfügungsgewalt abspricht, konstituieren. Diese Mechanismen - ein Konglomerat von politischen und ideologischen Konstrukten - werden vom Subjekt internalisiert und fungieren als "innerer Richter", der alle Handlungen einem Bewertungsprozess unterzieht.

Das Individuum gerät so in eine Art Zwangsjacke - so Butler -, die einen zwingt, sich gemäß den gesellschaftlich gültigen Diskursen zu verhalten, und engt somit die Existenz ein. In Anlehnung an den französischen Philosophen Michel Foucault bezeichnet Butler diese Konstrukte als Diskurse, die die Realität des Subjekts entscheidend konstituieren und eine bestimmte Identität, ein bestimmtes Geschlecht und eine bestimmte Weltsicht generieren.

Die Herrschaft der Diskurse vermittelt dem Subjekt die Vorstellung, dass allgemein anerkannte Wertmaßstäbe existieren: Sie regulieren die sozialen Aktivitäten, die körperlichen und sexuellen Begierden und auch die Geschlechteridentität des Subjekts.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist für Butler die sogenannte "heterosexuelle Matrix", in der der Anspruch erhoben wird, dass es so etwas wie eine prästabilierte Ordnung der Geschlechter oder der sexuellen Begierden gebe: "Damit die Körper eine Einheit bilden, muss ein festes biologisches Geschlecht (Maskulinität/Femininität) zum Ausdruck gebracht werden", schreibt Butler, "das durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist". Die Dominanz der "heterosexuellen Matrix", die für die spezifische Geschlechtsidentität verantwortlich ist, fungiert als rigide Ausschließungsmaschinerie, die das sexuelle Begehren immer schon normiert hat.

Zwar verlor die dominante Position der "heterosexuellen Ma-trix" in den letzten Jahrzehnten an Terrain, argumentiert Butler, aber auf die Phase der Aufweichung fundamentalistischer Dichotomien folgte eine radikale Gegenbewegung, wie sie in nationalistischen und extrem konservativen Bewegungen in Ungarn, Polen, Frankreich und den Vereinigten Staaten zu beobachten ist.

Subversive Strategien

"Die heterosexuelle Matrix - eine Vergewaltigung jedes konkreten Menschen" - bildet jedoch keineswegs eine unüberwindliche Panzerung, die das Subjekt dazu verurteilt, ihre/seine konstruierte Geschlechtsidentität beizubehalten. Butlers Kritik einer normativen Heterosexualität mündet in Vorschläge, wie diese Panzerung gesprengt werden könnte. Sie empfiehlt, politische Strategien in Form der Parodie oder der Subversion zu entwickeln, die ein Ausbrechen aus dem starren Korsett ermöglichen.

Dabei taucht wieder eine Gestalt auf, die sie bereits in den Jugendjahren faszinierte, nämlich die Drag Queen, die durch Parodie und Imitation die Eindeutigkeit der Geschlechterrollen auflöst: In diesem Sinn ist das Phänomen Drag Queen subversiv, "in dem es die Imitationsstruktur widerspiegelt, in dem es den Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit bestreitet".

Neben den Beiträgen zur Geschlechteridentität hat sich Butler intensiv mit Fragen der Ethik auseinandergesetzt. Wie sie in ihrem Buch "Kritik der ethischen Gewalt" betont, plädiert sie für eine Ethik, "die sich nicht auf Vorschriften reduzieren lässt". Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen stehen dabei die Verletzbarkeit von Menschen und die seelischen und körperlichen Wunden, die ihnen durch verbale, institutionelle oder körperliche Gewaltausübung angetan werden. Butler spricht von einem beschädigten Leben und bezieht sich auf Theodor W. Adorno, der in seinem Buch "Minima Moralia" ausgeführt hat, dass es "kein richtiges Leben im falschen" gebe.

Gemäß ihrer philosophischen Konzeption lehnt Butler das souveräne Subjekt ab, das ethisches Verhalten nur auf sich bezieht. Die ethische Frage "Was soll ich tun?" setzt ein autonomes Subjekt voraus, das zur Selbstreflexion fähig ist und dementsprechend handelt, was zur Folge hat, dass ethisches Verhalten als Regelbefolgung verstanden wird, die ein reibungsloses Funktionieren einer Gesellschaft gewährleistet. Ausgeklammert bleibt der konkrete Andere, mit dem das Ich unauflöslich verbunden ist.

Dagegen betont Butler die Bedeutung der Ich-Du-Beziehung: Das Ich ist auf die Beziehung zum Anderen angewiesen; ohne Begegnung mit dem Anderen ist es dem Ich nicht möglich, als soziales Wesen zu agieren. Für das ethische Verhalten bedeutet das Sich-Einlassen auf den Anderen, die Souveränität des autonomen Ich aufzugeben und Abstand von einem Menschenbild zu nehmen, das das Ego in den Mittelpunkt der Welt rückt. "Um menschlich zu handeln", schreibt Butler, "muss man seine Souveränität einbüßen" und dem Anderen offen und einfühlsam begegnen.

Wie symbiotisch die Beziehung Ich-Du ist, illustriert Butler am Beispiel der Trauer. Der Verlust eines geliebten Menschen, um den intensiv getrauert wird, zeigt, dass der Andere nicht als Entität außer mir fungiert, sondern ein Teil meines Ich ist. Die Trauer verweist auf die "fundamentale Sozialität des Lebens, also jene emotionale Bindungen, die uns ausmachen" und die nicht durch normative Vorgaben reguliert werden können.

Zwei-Klassen-Trauer

Die Trauer ist für Butler ein Phänomen, das sich auch politisch deuten lässt. Sie geht davon aus, dass jedes menschliche Leben, das verloren geht, wert ist, betrauert zu werden. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist jedoch nicht immer gegeben; es existiert gleichsam eine Zwei-Klassen-Trauer: Während der Tod oder das Unglück bestimmter Bevölkerungsschichten - vorwiegend aus westlichen Industriegesellschaften - tiefe emotionale Betroffenheit auslösen, werden Opfer von Gewalttaten, von politischen Repressionen in Syrien, im Irak oder im Südsudan und im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge nur mehr in Form von statistischem Material zur Kenntnis genommen. Für Butler ist diese Ignoranz das Resultat von normativen ideologischen Prägungen, die tief in das emotionale Gefüge eingedrungen sind und selbst so etwas Subtiles wie das Mitgefühl strukturieren.

In ihrem gesamten Werk akzentuiert Butler die Bedeutung des "lebbaren, guten Lebens", das von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Sicherheit getragen ist. Sie ist davon überzeugt, dass dieses "gute Leben" nicht nur der Bevölkerung der westlichen Industrieländer zusteht, sondern globale Gültigkeit hat.

Butlers politisches Engagement ist wie ihr philosophischer Ansatz vom Kampf gegen Einheit und Hegemonie geprägt. Ihre Sympathie gilt den gesellschaftlich Exkludierten wie Flüchtlingen, Migranten, Obdachlosen oder Angehörigen sexueller Minoritäten. In ihren Schriften betont Butler immer wieder, dass sie den Kampf der Ausgeschlossenen unterstützt, "um eine Art von Gemeinwesen zu schaffen, in dem das Queer-Leben wertvoll und unterstützungswürdig wird und in dem Leidenschaft, Verletzung, Trauer und Sehnsucht anerkannt werden".

Literaturhinweis:
Die Bücher von Judith Butler, u.a. "Das Unbehagen der Geschlechter", "Gefährdetes Leben. Politische Essays"und"Kritik der ethischen Gewalt", sind bei Suhrkamp erschienen.

Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.