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Denkmalschutz auf Chinesisch

Von Wu Gang

Reflexionen
Die gewaltige, sieben Kilometer lange Stadtmauer von Datong sieht sehr viel älter aus, als sie ist. Seit 2008 wird an ihr gebaut.
© Foto: Wu Gang

Im nordchinesischen Datong soll das historische Erbe den Tourismus ankurbeln. Was aber, wenn die alte Stadtmauer gar nicht mehr steht? Dann baut man einfach eine neue.


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Es gab einmal eine Zeit, in der Datong eine der wichtigsten Städte im Norden Chinas war. Fast hundert Jahre lang, von 398 bis 494, war sie sogar die Hauptstadt der nördlichen Wei-Dynastie und in Folge eine bedeutende Militärbasis der Ming unweit der Reichsgrenze. Eine gewaltige, sieben Kilometer lange Stadtmauer gibt Zeugnis aus jener Zeit, als noch wilde Reitervölker gegen die Wälle mit ihren Wach- und Ecktürmen, Schießscharten und Gräben anstürmten.

Vier beeindruckende Toranlagen, durch die sich die Hauptverkehrsadern der Innenstadt ziehen, flankieren jeweils die Mittelpunkte dieses Rechtecks. Über jede vorspringende Bastion erhebt sich ein hölzerner Pavillon mit geschweiften Dächern. Fast meint man, das Geflüster der Bogenschützen zu hören oder das Hufgetrappel der Wachmannschaften, die über die 18 Meter breite Mauer zu ihren Posten reiten.

Oder doch nicht? Es ist eher das Geschrei der Bauarbeiter, das Hämmern der Bohrer und das Kreischen der Sägen, das in die Ohren sticht. Baubeginn der vermeintlich geschichtsträchtigen Mauer aus der Ming-Dynastie war 2008, und ganz fertig ist sie noch immer nicht. Nach wie vor wird an den Türmen und Fassaden gearbeitet, werden Verkleidungen verziert und Giebel bemalt.

Neu designte Altstadt

Noch bizarrer wird der Eindruck, wenn man durch das Tor die 3,3 Quadratkilometer große, nun ja, Altstadt betritt. Überall werden "historische" Gebäude hochgezogen, während tatsächlich alte Häuser in ihren Trümmern liegen; man findet eine Moschee, in der Souvenirs verkauft werden, und selbst die Mistkübel sind im Design kleiner Tempel gehalten. Vereinzelte Touristen blicken sich ratlos an, während die etwas unterbeschäftigten Verkäufer der Geschäfte gelangweilt auf die Handwerker blicken, die hier als Einzige tatsächlich einer Aufgabe nachzugehen scheinen.

Bisher lebten die insgesamt knapp drei Millionen Einwohner Datongs in erster Linie von der Kohle. Doch die Reserven schwinden, und die Stadt braucht langfristig gesehen eine neue Einnahmequelle. Das soll der Tourismus sein. Doch würden sich die Reisenden überhaupt für die originale Stadtmauer begeistern, die nach der Kulturrevolution und den Umwälzungen der Moderne zu einem bröckelnden Lehmhaufen verkommen war, dessen Ziegel man zwischenzeitlich anderweitig verwendet hatte?

Sehnsüchtig blickte man daher in das nahe Pingyao, jenes chinesische Rothenburg ob der Tauber, das sich sein mingzeitliches Stadtbild bewahren konnte und heute von Touristen aus dem In- und Ausland gestürmt wird. Doch während Pingyao 1997 als Weltkulturerbe geadelt wurde, fiel das Urteil eines Unesco-Beamten über Datong weniger schmeichelhaft aus. Er bezeichnete das kohlestaubbelastete Industriezentrum, das zum Sinnbild für das maoistische Prinzip "erst produzieren, dann leben" geworden war, als "hässlichste Stadt der Erde". Eine Bemerkung, die den 2008 ins Amt gekommenen Bürgermeister Geng Yanbo bis ins Mark getroffen hatte. Nein, man wollte nicht länger hässlich sein, sondern ein attraktives Ziel für geschichtsbewusste Reisende werden. Also wurde unmittelbar nach Gengs Amtsantritt der "Plan zur Umgestaltung der alten Stadt" ins Leben gerufen, der kurz darauf vom "Plan zum Schutz der alten Stadt" abgelöst wurde.

Doch unter "Denkmalschutz" versteht man hier offensichtlich etwas anderes als in Europa. Nostalgie ist dem chinesischen Denken weitgehend fremd; Entwickeln geht vor Bewahren: "Unsere Stadt war sehr schön. Morgen wird sie noch einmal so schön sein", gab Bürgermeister Geng den Startschuss für sein Projekt, für das innerhalb einiger Jahre 40.000 innerstädtische Anrainer umgesiedelt wurden. Die meisten waren leicht zu überzeugen, denn es handelte sich überwiegend um ärmere Bewohner, die teils in prekären Verhältnissen ohne fließendes Wasser und Toiletten lebten.

Also gruben sich die Abrissbagger durch die engen Gassen der bisherigen Altstadt und hinterließen ein Mosaik aus neuen, feudalen Luxushäusern mit weitläufigen Höfen, rekonstruierten Tempelanlagen, unzähligen Schutthalden und den abbruchreifen Hütten jener Widerspenstigen, die sich zu gehen weigerten.

Mangelndes Bemühen kann man den Stadtplanern nicht vorwerfen: Die Mauer weist eine Qualität auf, von der die Herrscher der Ming-Dynastie nur träumen konnten, bei der Ausstattung der neuen alten Gebäude wurden Teile der abgerissenen Häuser wieder verwendet und die Holzvertäfelungen in aufwendiger Handarbeit verziert.

Mit Stil und Charakter

Doch halten sich die Rekonstruktionen auch an das Original? An Dajun, ein freundlicher Mitt-Fünfziger mit randloser Brille und alterslosen Gesichtszügen, muss über die Frage lächeln. Als verantwortlicher Chefarchitekt für die inhaltliche Ausgestaltung hat er sie bereits das eine oder andere Mal gehört: "Heute haben wir keine Möglichkeit, die Werkstoffe wie in den alten Zeiten herzustellen, eine Bautechnologie wie früher anzuwenden oder die originalen Baupläne zu studieren. Deshalb ist das Renovieren alter Gebäude schwierig." Er habe daher mit seinem Team historische Landkarten und Pläne sowie Fotos und Bilder studiert, um sich dem Original so weit wie möglich anzunähern. Es wären nur jene Häuser abgerissen worden, die nicht erhaltenswert oder schwer zu restaurieren gewesen seien: "Unser Ziel ist es, eine Stadt mit Charakter und Stil zu bauen, und wir glauben, dass die Seele einer Stadt in ihrer Kultur liegt."

Was aber, wenn diese Kultur einem Idealbild weichen muss, das es historisch gesehen so nie gegeben hat? Feng Zhenming geht den Straßenzug zum neuen Trommelturm hinunter und deutet auf die Häuser, die er als Polier mit einem Trupp aus billigen Wanderarbeitern und teuren Fachkräften errichtet hat: "Das sind auf alt gemachte Gebäude, von denen es nur zwei Modelle zur Auswahl gibt: Häuser mit rundem Dach und solche mit spitzem Giebel." Auf die Frage, ob sich der Bauplan nach den ursprünglichen Konstruktionsplänen richten würde, wiegt der Mann seinen massigen Schädel: "Naja, so ungefähr... Wie die Häuser in der Ming-Zeit genau ausgesehen haben, weiß doch kein Mensch mehr."

Dafür weiß er, dass die neuen Häuser zwischen 400.000 und einer Million Euro kosten - und dass bis jetzt zumindest in diesem Straßenzug kein einziges verkauft wurde. Feng versteht das: "Die Wohnungen sind nicht gut. Einfach ein großer Raum, ohne Unterteilungen und schlecht zu heizen. Sobald man die Türe aufmacht, ist die ganze Wärme draußen." Werden die Objekte angesichts dieser Umstände überhaupt Käufer finden? "Gewiss, die in ganz China berühmten Kohlebergwerksbesitzer unserer Provinz Shanxi werden sie kaufen, denn das verleiht Ansehen." Leben würden sie hier allerdings eher nicht. Dafür seien ihre westlichen Villen und Paläste außerhalb der Stadt doch zu bequem.

Das Geld also. Darum geht es im Endeffekt auch bei Geng Yanbos "Plan zum Schutz der alten Stadt", denn wie jeder neue Bürgermeister versuchte er bei seinem Amtsantritt, mit einem Prestigeprojekt die Parteioberen auf sich aufmerksam zu machen. In China stehen die Gemeinden in beinharter Konkurrenz zueinander: Sie buhlen um Investoren oder müssen sich, um finanziell überleben zu können, ein unverwechselbares, einkommensträchtiges Image geben - etwa im Kultur- oder Fremdenverkehrsbereich.

Da alles Land dem Staat gehört, können die Lokalregierungen nur mit dem Verkauf von Landnutzungsrechten (für maximal sechzig Jahre) oder Umwidmungsplänen Geld verdienen.

Ob sich Gengs Projekt rechnen wird? Es gibt warnende Beispiele wie beispielsweise die Küstenstadt Shanhaiguan 300 Kilometer östlich von Peking. Dort wurde 2008 ebenfalls eine Altstadt mit medienwirksamem Getöse geschleift und durch eine neue ersetzt. Heute steht diese mehr oder weniger leer und wirkt mit ihren verwaisten Geschäften ironischerweise tatsächlich wie eine alte Geisterstadt.

Politische Probleme

Vielleicht war es daher die Sorge um die eigene Zukunft, welche die Bewohner von Datong auf die Straße trieb, um für den Verbleib ihres Bürgermeisters zu demons-trieren, der von einem Tag auf den anderen nach Taiyuan versetzt wurde.

"Unsere Befreiung verdanken wir der Kommunistischen Partei, den großen Wandel Bürgermeister Geng" oder "Bürgermeister Geng ist gut! Datong ist dein unvollendetes Monument" stand auf ihren Plakaten. Dieses Monument kostete offiziell sechs Milliarden Euro, das Vierfache des Jahreseinkommens der Stadt, doch Experten gehen von weitaus höheren Kosten aus. Und von einem Schuldenberg, der selbst in einer Region mit einer langen Bergbautradition schwer abzutragen sein wird. Doch nicht einmal der absehbare finanzielle Kollaps hat die Bauarbeiten stoppen können - im Gegenteil. Jetzt wird die bereits zweimal umplatzierte "Neundrachenwand", eine traditionelle Geistermauer aus dem Jahr 1392, versetzt, um den zukünftigen Königspalast zu schützen.

Die ursprüngliche Anlage brannte 1644 bei einem Bauernaufstand bis auf die Grundfesten ab, nun wird sie auf einer Fläche von 24 Fußballplätzen rekonstruiert. Drei Baukräne hieven riesige Holzbalken Richtung Himmel, während eine Hundertschaft an Arbeitern in Zelten auf der Baustelle wohnt. Der strenge Geruch weist darauf hin, dass offensichtlich darauf vergessen wurde, ihnen auch ein paar Toiletten bereitzustellen. Zumindest in dieser Hinsicht findet der Wiederaufbau nach historischem Vorbild statt.

Wu Gang, geboren 1978 in der Steiermark, lebt und arbeitet seit 2010 als Korrespondent in China. Zuvor journalistische Arbeiten im Print- und Radiobereich.