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Die "Wiener Zeitung" besuchte die Näherinnen in Bangladesch.
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Dhaka. Dort, wo jetzt eine Baulücke klafft, in der sich Wasser in einem kleinen Tümpel sammelt, stand einst das Rana-Plaza-Gebäude, ein achtstöckiger Bau, in dem tausende Näherinnen Textilien fertigten.
Die 25-jährige Yasmin Akter saß am 24. April 2013 um 8.45 Uhr wie jeden Tag an der Nähmaschine im zweiten Stock des Gebäudes für die Firma "New Wave Bottom Ltd." und schneiderte Reißverschlüsse, Taschen und Gürtelbänder in Hosen ein. Plötzlich war die Elektrizität weg - keine Seltenheit in dem von Stromausfällen geplagten Bangladesch.
Nur einen Augenblick, nachdem die Generatoren wieder ansprangen, krachte die Decke herunter. Später werden die Experten sagen, dass die überall auf den Stockwerken verteilten und gleichzeitig anspringenden Generatoren der ohnehin schon äußerst geschwächte Statik des Hauses den Rest gegeben haben.
Als das Gebäude in sich zusammenbrach, fand Yasmin Akter durch eine dichte Staubwolke den Weg zu einer Fensteröffnung, durch die sie in Panik aus dem Gebäude fliehen konnte. Sie hat nur ein paar Erinnerungsfetzen an das Erlebte: das Wimmern und Stöhnen der Schwerverletzten, die Gedanken an die Kolleginnen, die zuvor noch ein paar Meter von ihr entfernt gestanden und von den dicken Betonplatten zerquetscht worden sind. Sie weiß auch nicht, wie sie sich bei der Flucht schwer an der Hand verletzt hat, aber sie lebt - und das ist, was zählt.

Das Rana-Plaza-Gebäude in einem Außenbezirk von Dhaka war illegal aufgestockt worden, ohne dass irgendjemand die Statik beachtet hätte, 1129 Menschen starben in den Trümmern - der schlimmste Arbeitsunfall in der Geschichte von Bangladesch.
Risse in den Wänden

Kurz vor dem Gebäudeeinsturz haben Yasmin Akter und ihre Kolleginnen und Kollegen Risse in den Wänden bemerkt. Eine im Haus ansässige Bankfiliale hatte ihre Angestellten nach Hause geschickt und die Filiale geschlossen, doch das Management von New Wave Bottom Ltd. wollte, dass Yasmin Akter und ihre Kolleginnen weiterarbeiten, die Vorarbeiter versuchten, die Näherinnen mit Durchsagen, die aus dem schnarrenden Lautsprecher kamen, zu beruhigen: "Niemand braucht Angst zu haben, das Gebäude wurde kontrolliert und ist sicher."
Nun, Monate nach dem Einsturz, sitzt Yasmin Akter ruhig auf einem Plastiksessel vor ihrem Haus in der Nähe der Rana-Plaza-Ruine, trägt eine leuchtend-orange Dupatta als Kopftuch und den traditionellen Salwar Kameez in gelben und rosafarbenen Pastelltönen und erzählt das alles so nüchtern und sachlich, als zitiere sie aus einem Polizeibericht. Einzig das nervöse Herumnesteln an ihren Händen verrät, dass sie bei ihren Erzählungen keineswegs so ruhig ist, wie es den Anschein hat.
Für ihre schwere Handverletzung hat Yasmin 16.000 Taka (ca. 160 Euro) Entschädigung vom irischen Textilkonzern Primark erhalten, dem Auftraggeber ihres Arbeitgebers. Bis heute kann die junge Frau aber nicht wieder zurück in eine Textilfabrik gehen: "Ich will nicht wieder in so ein Gebäude arbeiten gehen. Die Geräusche, der Raum: Das macht mir Angst."
Yasmin Akter verdiente in der Fabrik rund 48 Euro pro Monat, mit den Überstundenzuschlägen rund 70 Euro im Monat. Mit ihrem Einkommen und dem Geld ihres Mannes kam die dreiköpfige Familie so recht und schlecht über die Runden. Yasmin Akters einziger "Luxus": ein altes Mobiltelefon. Seit dem Rana-Plaza-Einsturz, bei dem Yasmin Akter ihren Arbeitsplatz verloren hat, verzichtet ihre Tante, bei der sie wohnt, darauf, 15 Euro Miete von ihr zu nehmen: Wenn sie das nicht täte, müsste Yasmin aufs Land zurückgehen.
Im Nachbargebäude des eingestürzten Rana Plaza wird schon wieder gehämmert und gebaut. Dort fanden Christina Schröder und Ines Zanella, Mitarbeiterinnen der Entwicklungsagentur "Südwind", zwischen Schutt und verbogenen Metallteilen einen Gewandberg mit Kleidung verschiedener Hersteller, darunter Tops der Verona-Feldbusch-Pooth-Linie des Textildiskonters KiK. Hat KiK Lehren aus der Tragödie gezogen? Nach einer Unternehmensmitteilung wurde ein Übereinkommen für Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesch unterzeichnet. In der E-Mail an die "Wiener Zeitung" heißt es, dass das Unternehmen Verantwortung für die Einhaltung sozialer und arbeitsrechtlicher Mindeststandards übernehmen würde: "Dieses klare Bekenntnis entlässt aber weder staatliche Stellen noch das lokale Management aus der Verantwortung."

Der italienische Mode-Riese Benetton, der ebenfalls im Rana Plaza produzieren ließ, verspricht in einem an die "Wiener Zeitung" gerichteten E-Mail, Entschädigungen für die Opfer des Einsturzes und verweist auf eine Zusammenarbeit mit der größten NGO von Bangladesch, BRAC, durch die die Überlebenden des Einsturzes Hilfe erhalten sollen. Doch Überlebende beklagen im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass sie nach wie vor auf Entschädigungen der Textilkonzerne warten.
Tod in den Flammen
Die Tazreen Fashion Factory, die zum Tuba-Konzern gehört, liegt nur rund zehn Kilometer nordöstlich von Rana Plaza in Stadtteil Ashulia. Dort hat sich am 24. November 2012 ebenfalls eine Tragödie zugetragen, die um 18.50 Uhr ihren Ausgang nahm.

Um diese Zeit saß die 35-jährige Ale Noor an ihrer Nähmaschine im dritten Stock, als sie bemerkte, dass etwas nicht stimmt. Das laute Surren der Nähmaschinen verstummte, und Unruhe breitete sich aus. Brandgeruch drang an ihre Nase, Rauch stieg durchs Treppenhaus auf und aus Unruhe wurde blitzartig Panik. Es gab nur mehr einen Gedanken: raus. Ale Noor begann gemeinsam mit einigen Kolleginnen, einen Ventilator aus den Fensterrahmen zu reißen, die Arbeiterinnen zwangen sich durch die Ventilatoren-Öffnung und sprangen in die Tiefe. Trotz schwerer Verletzungen am Kopf und am Oberkörper und vier Frakturen am rechten Bein überlebte Ale Noor. Die umgerechnet 1000 Euro, die sie als eine der wenigen Verletzten vom bangladeschischen Textil-Unternehmensverband bekam, gab sie in den fünf Monaten nach dem Brand für Operationen und Behandlungen aus. Sie braucht immer noch rund 60 Euro im Monat für Medikamente, Ale Noor ist auf Krücken angewiesen, sie hat noch Schrauben in ihrem Bein.
112 der 1630 in der neunstöckigen Fabrik Beschäftigten kamen damals bei dem Feuer ums Leben. Die, die beim Fenstersprung starben, hatten noch den gnädigsten Tod. Es kursieren schreckliche Fotos von hinter vergitterten Toren aufgetürmten Leichenbergen der qualvoll Erstickten. Und es gibt Geschichten wie jene von einem 24-Jährigen, der in seiner Panik und Todesangst die ganze Zeit über am Handy mit seiner Mutter telefonierte. Mutter und Sohn sind am Telefon gemeinsam eine Fluchtoption nach der anderen durchgegangen - doch keine führte irgendwohin, weil versperrte Gitter die Fluchtwege blockierten. Am Ende habe die Mutter schließlich nur mehr das immer schwerere Husten und Keuchen ihres Sohnes gehört. Kurz bevor ihr Sohn dann für immer verstummte, sagte er, dass er sich jetzt sein Hemd um den Körper binden würde, damit ihn die Mutter leichter unter den anderen Toten identifizieren könne.
Im Englischen gibt es den Trend-Begriff Fashion Victim (Deutsch: Modeopfer), der eine Person bezeichnet, die stets nach der aktuellen Mode gekleidet ist und jeden Trend mitmacht. Die wahren Mode-Opfer leben in Bangladesch.
Fast Fashion
Yasmin Akter, die den Rana-Plaza-Einsturz überlebt hat, und Ale Noor, die aus dem Tazreen-Inferno lebend davongekommen ist, sind nur zwei derer, die im in Europa dominierenden Geschäftsmodell Fast Fashion unter die Räder gekommen sind. Fast Fashion: Textilketten wie H&M, Benetton, C&A, Zara und praktisch alle Marken, deren Modetempel heute in den schicken Einkaufsstraßen der Metropolen zu finden sind, haben stets die neuesten Stücke, die den jüngsten Trends folgen, auf Lager. Diese werden in hohen Stückzahlen in kurzer Zeit verkauft, eine hohe Warenrotation soll hohe Umsätze garantieren, die Trendscouts der Ketten trachten immer danach, dass Schnelldreher auf den Kleiderstangen hängen. Aber auch die beliebten Stücke haben ein Ablaufdatum. Die Konsumentinnen und Konsumenten sollen wissen: Wenn sie heute nicht zuschlagen, ist morgen das beliebte Teil vielleicht schon nicht mehr erhältlich. Und Ware, die sich nicht verkauft, fliegt aus dem Sortiment.
Und mit Fast Fashion wurden die Konsumentinnen und Konsumenten an billige Kleidungsstücke gewöhnt - und sie wollen immer mehr für immer weniger Geld. 1976 machten Kleidung und Schuhe noch elf Prozent des privaten Konsums in Österreich aus, 1991 ist dieser Wert auf neun Prozent gesunken, heute sind es nur mehr sechs Prozent. Die Textilindustrie macht, was alle Konzerne im Zeitalter der Globalisierung machen: Sie produzieren, wo die Arbeitskräfte billig sind, setzen die Ware dort ab, wo die Konsumenten kaufkräftig sind, und zahlen ihre Abgaben dort, wo die Steuersätze niedrig sind. Mit dieser Strategie wurde Inditex-Gründer Amancio Ortega - ihm gehört unter anderem die Marke Zara - zum reichsten Mann Spaniens und der 2002 verstorbene Hennes & Mauritz-Gründer Erling Persson zu einem der reichsten Bürger Schwedens.
Das 163-Millionen-Einwohner-Land Bangladesch spielt in der Welt von Fast Fashion die traurige Rolle des modernen, flexiblen Sweatshops: Nirgendwo auf der Welt lassen sich T-Shirts, Hosen oder Röcke billiger produzieren - daher ist das südasiatische Land mittlerweile zum zweitgrößten Textilproduzenten hinter China (wo die Arbeiter mittlerweile viermal bis achtmal so viel verdienen) aufgerückt.

Der Anteil der Textilindustrie am Bruttoinlandsprodukt beträgt rund sieben Prozent, der Sektor beschäftigt etwa vier Millionen Textilarbeiter. Zuletzt hat Bangladesch Textilien im Wert von rund 16 Milliarden Euro exportiert, davon 58 Prozent nach Europa. Der Anteil etwa des Textildiskonters KiK am Gesamtvolumen liegt nach Unternehmensangaben bei 0,7 Prozent, also bei rund 112 Millionen Euro.
Das größte Abnehmer von in Bangladesch produzierter Kleidung ist aber das schwedische Modehaus H&M. Das Unternehmen kaufte 2012 nach unbestätigten Berichten um 1,1 Milliarden Euro bei den lokalen Produzenten ein. In einer E-Mail an die "Wiener Zeitung" schreibt Unternehmenssprecherin Anna Eriksson: Der schwedische Konzern lässt in insgesamt 1800 Fabriken, die 785 Produzenten gehören, fertigen. Wobei H&M in dem E-Mail auch betont, dass man allein letztes Jahr 2541 Überprüfungen in Fabriken, in denen H&M produzieren lässt, durchgeführt habe. Darüber hinaus hätten die Arbeiter in Fabriken, die für H&M arbeiten, das Recht, sich zu organisieren, und die H&M-Sprecherin verweist auf ein "gutes Gesprächsklima" mit den lokalen Gewerkschaften.
Anu Muhammad ist globalisierungskritischer Ökonom und Professor an der Jahangir Nagar Universität in Dhaka, sechs Kilometer nördlich von der Einsturzstelle des Rana Plaza. "Maximal 1,5 Euro kostet die Herstellung eines T-Shirts, die Näherinnen bekommen aber nur ein bis 1,5 Cent", erregt sich Anu Muhammad. "Die globalen Konzerne müssen zur Verantwortung gezogen werden, denn sie streifen den Profit ein", sagt der Ökonom.
Der "schlafende Riese"
Und die Konsumenten? Michaela Königshofer von der Clean-Clothes-Kampagne in Wien fordert einen "bewussten Einkauf".
Wie sagte schon der Münchner Soziologe Ulrich Beck im Jahr 2004 in einem Interview mit dem Deutschlandradio? Es gehe darum, "den schlafenden Riesen" - und damit meinte er den Konsumenten - zu wecken.
Yasmin Akter, jene junge Frau, die beim Einsturz der Rana-Plaza-Fabrik gerade noch mit dem Leben davongekommen ist, hat am Ende ihrer Erzählungen noch eine Botschaft an die Konsumenten jener Kleidung, die sie dort im Rana Plaza zusammengenäht hat: "Die Käufer dieser Kleidung müssen Druck auf die Modemarken auszuüben, damit sie die Arbeitsbedingungen für Menschen wie mich verbessern." Wie Menschen in Europa leben und shoppen, hat eben recht direkte Auswirkungen auf das Leben von Frauen wie Yasmin Akter und Ale Nor.