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Der Krieg in der Ukraine dauert bereits 100 Tage. Um Sewerodonezk haben die Russen die Initiative zurückgewonnen.
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Als am 24. Februar die ersten russischen Panzer über die ukrainische Grenze rollten, ging man in Moskau von einem raschen Erfolg aus: Die russischen Truppen sollten die Hauptstadt Kiew in wenigen Tagen erobert haben, und nach der Einsetzung einer Kreml-treuen Marionettenregierung würde auch der Widerstand im restlichen Land schnell kollabieren.
Aus dem geplanten schnellen Enthauptungsschlag ist jedoch die größte militärische Auseinandersetzung auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geworden; der heutige Freitag markiert den 100. Tag seit Kriegsbeginn, und ein Ende ist nicht einmal in Ansätzen absehbar.
Vielmehr dürfte der Konflikt seine bisher blutigste Phase erreicht haben. So sterben laut Präsident Wolodymyr Selenskyj täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten bei den Gefechten im Osten des Landes. Die schwersten Kämpfe gibt es dabei nach wie vor in der Gegend um die beiden nur durch einen Fluss getrennten Städte Sewerodonezk und Lysychansk, wo 10.000 bis 12.000 ukrainischen Soldaten eine Einkesselung droht. Laut dem britschen Verteidigungsministerium, das jeden Tag einen aktualisierten Lagebericht veröffentlicht, haben die langsam aber stetig vorankommenden russischen Truppen mittlerweile den Großteil des durch Artilleriebeschuss fast völlig zerstörten Sewerodonezk eingenommen. Die Hauptstraße in die Stadt hinein soll aber noch von der Ukraine gehalten werden, ebenso das Ufer auf beiden Seiten des strategisch wichtigen und als natürliche Verteidigungslinie dienenden Flusses Siwerski Donez.
Hoher Blutzoll auf allen Seiten
"Die Russen haben zumindest lokal wieder die Initiative", sagt Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, gegenüber der Austria Presseagentur APA. "Russland schießt eine nach der anderen ukrainischen Frontstellung sturmreif."
Sollte das russische Militär Sewerodonezk und Lysychansk einnehmen, hätte es die Region Luhansk, die zusammen mit der Region Donezk den Donbass bildet, vollständig unter Kontrolle. Der russische Präsident Wladimir Putin hätte damit ein wichtiges Ziel erreicht. Wie lange die Russen ihre Offensive aufrechterhalten können, ist allerdings ungewiss. Denn Russland muss laut dem Lagebericht des britischen Verteidigungsministeriums bei seinen Vorstößen auf Sewerodonezk und andere strategisch wichtige Punkte im Oblast Luhansk ebenfalls schwere Verluste an Mensch und Material einstecken.
Die Ukraine scheint zudem gewillt zu sein, die russischen Truppen ungeachtet der hohen eigenen Verluste weiter abzunützen. So gibt es mehrere Anzeichen dafür, dass die ukrainischen Einheiten in den am schwersten umkämpften Gebiete nicht zurückgezogen, sondern verstärkt werden. "Die Ukraine würde das nicht tun, wenn es nicht in ihrem strategischen Interesse wäre", schreibt der im schottischen St. Andrews lehrende Militärstratege Phillips O’Brien auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. "Die Ukraine nimmt also offensichtlich an, dass die Verluste der Gegenseite noch größer sind als die eigenen und dass es für Russland schwieriger ist, diese Verluste zu ersetzen."
Viel wird also davon abhängen, wie rasch und in welchem Umfang die versprochenen westlichen Waffenlieferungen an der Front im Osten ankommen. Die Bereitschaft, moderne schwere Waffen zu schicken, scheint in vielen Ländern in den vergangenen Tagen jedenfalls noch einmal zugenommen zu haben. So hat die Slowakei am Donnerstag angekündigt, acht Haubitzen vom Typ Zuzana 2 zu liefern. Zuvor hatte US-Präsident Joe Biden die Lieferung des fortschrittlichen Artillerie-Raketensystem M142 bekanntgegeben, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz stellte der Ukraine hochmoderne Flugabwehrsysteme und ein Ortungsradar zum Aufspüren gegnerischer Artillerie in Aussicht.(rs)