Die Botschaft der Terroristen kam an: Man ist hier nicht mehr sicher.
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Nach der blutigen Terror-Serie steigt die Zahl der Todesopfer weiter. In der französischen Hauptstadt herrschen Schock, Fassungslosigkeit, Sorge um die Liebsten vor. Die Botschaft der Terroristen kam an: Man ist hier nicht mehr sicher.
Es hätte ein fröhlicher Abend werden sollen, er wurde zum schwärzesten, den die Pariser seit sehr langer Zeit erlebt haben. An Orten, wo Menschen zusammengekommen waren, um ein Konzert der US-Band "Eagles of the Metal" zu hören, gemeinsam zu essen, zu feiern oder das Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und Frankreich im Stade de France im Norden von Paris anzusehen, wurden sie Zeugen oder Opfer eines Blutbads, wie man sie in Europa sehr selten gekannt hat und auf französischem Boden noch nie.
Mindestens 120 Tote und 300 Verletzte, das ist am Morgen die furchtbare Bilanz dieser schwarzen Nacht, in der die Attentäter an mehreren Orten zur gleichen Zeit agierten, um maximalen Schaden anzurichten. Kurz nach 21 Uhr begann der Terror, gegen ein Uhr nachts endete er. Tot sind auch acht Terroristen, sieben von ihnen waren Selbstmordattentäter, trugen Sprengstoffgürtel. Offenbar waren die Anschläge in ebenso beliebten wie belebten Orten unweit des Platzes der Republik koordiniert – er liegt mitten im Szeneviertel von Paris und diente im Januar das Zentrum für die Solidaritätsbewegung mit "Charlie Hebdo" und den Opfern der Anschläge.
Ihren Anfang nahm die Terrorserie im Fußballstadion Stade de France mit mehreren Explosionen. Nach ersten Erkenntnissen zündeten dort drei Männer Sprengstoffgürtel. Mindestens ein weiterer Mensch starb, es kam zu einer Welle der Panik, abgepfiffen wurde das Spiel nicht. Auch in einem McDonald`s-Restaurant und einer Bar in der Nähe gab es Detonationen.
Derweil stürmten mehrere unmaskierte, mit Kalaschnikows bewaffnete Männer den Konzertsaal "Bataclan" im 10. Stadtbezirk und richteten dort ihre Waffen wahllos auf die feiernden Menschen. Sie hatten Zeit, mehrmals nachzuladen, überlebende Zeugen sprechen von einem "wahren Gemetzel". "Es dauerte mindestens zehn, 15 Minuten", berichtet der Journalist Julien Pearce, der vor Ort war. "Sie haben ihre Waffen erneut geladen, sie hatten alle Zeit dafür. … Als die Schüsse aufhörten, liefen wir den Notausgang hinaus und dort haben wir lauter Leute auf der Straße gesehen, die über und über mit Blut bedeckt waren, die Schusswunden." Viele der anderen Gäste nahmen die Täter als Geisel, bis Sicherheitskräfte nach Mitternacht das Gebäude stürmten. Mit bislang 79 Toten ist die Opferbilanz hier die schwerste. Gleichzeit wurde das Feuer in und vor Bars und einem kambodschanischen Restaurant eröffnet, auf der Straße wurden Passanten niedergestreckt – Kriegsszenen mitten in Paris. "Dutzende Tote lagen auf dem Boden, in ihrem Blut", erzählt ein Augenzeuge im Info-Fernsehen BFMTV. "Es ist ein Albtraum, der totale Albtraum." Zuerst habe man an Feuerwerkskörper gedacht, berichtet ein Journalist, der sich unweit der Tatorte befand. Bis man verstand, dass es hier um Leben und Tod ging. Die ganze Nacht über herrschte Ausnahmezustand: Polizei- und Krankenwagen fuhren mit Blaulicht durch die Stadt, Sicherheitskräfte patrouillierten in den Straßen. "Bleiben Sie zuhause, bleiben Sie sicher", wurde den Einwohner im Radio und Fernsehen eingeschärft.
Totale Fassungslosigkeit und Sorge um Angehörige
Schock, Entsetzen, die totale Fassungslosigkeit herrschen vor. Aber auch Sorge um die Liebsten. Wer in der Nähe der Tatorte wohnt und unterwegs war, konnte zum Teil nicht nach Hause, übernachtete anderswo. "Geht es dir gut?", "Pass auf dich auf", "Sag mir bitte, ob alles in Ordnung ist", solche Nachrichten laufen ständig ein, selbst von fernen Bekannten. Die ganze Welt scheint alarmiert zu sein. Auf Facebook kann man seinen Status mit "In Sicherheit" angeben und seine Freunde beruhigen, all den Beunruhigten mitteilen: Ja, ich bin okay. Dabei ist nichts okay.
Nach den islamistischen Terror-Anschlägen vom Januar auf die Redaktion des Satire-Magazins "Charlie Hebdo" und den jüdischen Supermarkt Hyper Casher hatte man gedacht, den Gipfel des Terrors in Paris erlebt zu haben. Damals bäumte man sich dagegen auf, verbreitete im Netz in Windeseile das Solidaritäts-Motto "Ich bin Charlie" mit weißen Lettern vor schwarzem Hintergrund, um in einer Trotz-Reaktion zu zeigen, dass man keine Angst hat. Bei einem Trauermarsch gingen Millionen Menschen auf die Straße, der Gefahr weiterer Anschläge zum Trotz. Man war seither in Alarmbereitschaft, es herrschte dauerhaft die höchste Terror-Warnstufe, man wusste von Attentaten, die vereitelt werden konnten, manchmal nur sehr knapp wie in jenem Thalys-Zug von Amsterdam nach Paris, wo US-Soldaten als Passagiere den schwer bewaffneten Angreifer überwältigen konnten. Aber unmittelbar nach dem Horror vom Januar fühlte sich Frankreich gestärkt daraus hervorgegangen, weil eine verunsicherte Nation einen Moment des Zusammenhalts gespürt hatte.
Diesmal ist es anders: Diesmal hat man Angst. So wie die Gewalt eine neue Stufe erreicht hat, so hat es auch der Horror vor ihr. Sind immer noch Attentäter unterwegs? Was passiert als nächstes? Es kann jederzeit und überall wieder losgehen – wenn die Terroristen diese fürchterliche Botschaft streuen wollten, dann ist es ihnen gelungen. Zwar sagt Präsident François Hollande, der in der Horrornacht zunächst an der Seite von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier das Freundschaftsspiel Deutschland gegen Frankreich, angesehen hatte, auch dieses Mal, gegenüber dem Terror "muss Frankreich stark sein, es muss groß sein". Aber es klingt hilflos. "Die Terroristen wollen uns Angst machen, Entsetzen schaffen", erklärte er in der Nacht. Man werde sie bekämpfen, dann fügt er an: "Wir haben aber auch Grund, entsetzt zu sein." Er hat den Ausnahmezustand ausgerufen, noch in der Nacht wurden 1500 Sicherheitskräfte zur Verstärkung mobilisiert. Die Grenzen werden kontrolliert, was aufgrund der in zwei Wochen beginnenden UN-Klimakonferenz COP21 in Paris ohnehin vorgesehen war. Am Samstagmorgen trifft sich ein Krisenstab im Élysée-Palast.
Wer die Attentäter sind, wer sie von wo gesteuert hat, wie sie genau agiert und diese beispiellose Terrorserie vorbereitet haben – all das ist noch unklar. Was man weiß: Sie wollten möglichst viele Opfer, sie wollten Paris, Frankreich brutalst treffen. Es ist ihnen gelungen.