Zum 70. Todestag des kompromisslosen deutschen Künstlers Wols.
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"Ich lernte Wols 1945 kennen, kahlköpfig, mit einer Flasche und einem Bettelsack. In dem Bettelsack trug er die Welt, seine Sorge, in der Flasche seinen Tod".
So schilderte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre seine Begegnung mit dem Künstler, den er nach einem Besuch in der ersten Ausstellung seiner Werke in einer Pariser Galerie getroffen hatte. Wols, dessen bürgerlicher Name Alfred Otto Wolfgang Schulze lautete, war bereits als eine beinahe mythische Gestalt in Pariser Künstler- und Intellektuellenkreisen bekannt.
Er galt als anarchischer, zurückgezogen lebender Exzentriker, der die Gesellschaft seines Hundes Rip mehr schätzte als den Umgang mit vielen Künstlerkollegen, deren Bestreben, Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen, ihn anwiderte. "Je weniger man tut, desto weniger verliert man sich" notierte er, "die Position Null ist die einzig wahre Position".
Der Mythos Wols wurde noch durch seinen exzessiven Alkoholkonsum verstärkt, der sein Projekt einer allmählichen Selbstzerstörung begleitete, auf die Sartre anspielte. Der Künstler war davon überzeugt, dass nur durch die Selbstzerstörung ein kreatives, künstlerisches Schaffen möglich sei, das nicht vom Nützlichkeitsdenken geprägt ist - so Wols in einem Aphorismus: "Die Werke sind immer lebendig/ Durch die Anormalen - die Verrückten./ Sie sind nicht von Nutzen./ Das Werk, das das Nützliche braucht,/ ist kein Werk./ Was für seinen irdischen Ruhm gemacht wurde, hat keinen Wert./ Der Nutzen ist nützlich, wenn Notwendigkeit da ist,/ wird aber nie ein Werk des Himmels werden".
In seinen Gemälden, Aquarellen und Radierungen vollzog Wols eine radikale Abwendung von realen Objekten und vertiefte sich in seine Welt der Phantasien, Halluzinationen und teilweise auch Delirien. Im Verlauf seiner künstlerischen Entwicklung schuf er eine neue Form der abstrakten Kunst. die später von Kunstkritikern als Informel oder Tachismus bezeichnet wurde. Gemeint ist damit die Abkehr von konkreten Formen und die Hinwendung zu imaginären Zeichen, Flecken oder Linien, die ein phantastische Gebilde ergeben, das sich eindeutigen Zuordnungen entzieht.
Eine Interpretation seiner Werke lehnte Wols ab; er verstand sie als offene Kunstwerke, betont die Kunsthistorikerin Patrycja de Bieberstein Ilgner im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": Sie ist die Kuratorin des Wols-Archivs an der Karin und Uwe Hollweg Stiftung Bremen und Autorin einer umfangreichen Studie über die Gemälde von Wols, die in Kürze im Verlag Schirmer/Mosel erscheinen wird. "Er hat seine Kunstwerke ja nie signiert - oder erst später signiert. Er wollte ihnen auch keine Titel geben, er wollte sie nicht datieren; er wollte sie nicht in der Zeit verankern, er wollte niemandem Vorgaben geben, wie man sie zu sehen hat."
Der Geist der Revolte zeigte sich bei Wols bereits in der frühen Jugend. Er wurde am 27. Mai 1913 in Berlin als Sohn einer großbürgerlichen Familie geboren. Nach dem Umzug seiner Eltern nach Dresden erhielt sein Vater eine gut dotierte Stellung in der Sächsischen Staatskanzlei, wo er mit Kunstschaffenden, Professoren und Museumsdirektoren zusammenarbeitete. Nach dessen frühem Tod beendete der Jugendliche die Schule und begann eine Lehre bei der renommierten Fotografin Cenja Jonas, die er nach sechs Monaten abbrach.
Danach arbeitete er kurzfristig in einer Mercedes-Werkstätte, bis er durch die Vermittlung seiner Mutter eine Stelle am Afrika-Institut des Ethnologen Leo Frobenius erhielt. Dort konnte er Kopien prähistorischer afrikanischer Felsbilder studieren, die seine Ablehnung der europäischen Hochkultur maßgeblich prägte. Trotz der gegenseitigen Wertschätzung von Frobenius und Wols kam es auch zwischen ihnen zu Konflikten. Der Gelehrte hatte dem Jugendlichen angeboten, eine dauerhafte Anstellung am Institut zu erhalten, wobei er die Bedingung stellte, dass Wols den Schulabschluss nachholen sollte, was dieser rigoros ablehnte.
Staatenloser Emigrant
Sein ständiges berufliches Scheitern führte zu einer wachsenden Entfremdung von seiner Familie. Im Herbst 1932 verließ Wols Deutschland und reiste nach Paris, ausgestattet mit einem Empfehlungsbrief des ungarischen Malers László Moholy-Nagy. Dort lernte er seine spätere Ehefrau Gréty Dabija kennen, mit der er nach einem Zwischenspiel als Fotograf nach Barcelona und weiter auf die Balearen reiste. Da Wols den Militärdienst in Deutschland verweigerte, verlor er die Staatsbürgerschaft, was ihm Schwierigkeiten mit Behörden in Spanien und Frankreich eintrug.
Unmittelbar nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Wols als staatenloser Emigrant in ein französisches Internierungslager gebracht, wo eine Vielzahl von Zeichnungen und Aquarellen entstand. Nach der Heirat mit Gréty Dabija, die französische Staatsbürgerin war, wurde er aus dem Lager entlassen.
Danach zog das Paar für zwei Jahre in das Dorf Cassis bei Marseille, wo Wols das Leben eines Naturmystikers führte, der Steine und Muscheln sammelte, die zu einer wesentlichen Inspirationsquelle für seine Aquarelle und Zeichnungen wurden. In einem Aphorismus schildert Wols die Faszination, die organische und anorganische Natur ausübt: "In Cassis haben die Steine, die Fische,/ die Felsen, die ich durch eine Lupe sah, / das Salz des Meeres und der Himmel,/ mich die Wichtigkeit des Menschen vergessen lassen./ Sie haben mich aufgefordert, mich abzuwenden/ vom Chaos unserer Betriebsamkeit und haben mir/ in den kleinen Wellen des Hafens,/ die immer wiederkehren ohne gleich zu sein,/ die Ewigkeit gezeigt."
Für Wols war der Aufenthalt in Cassis neben seinen Naturstudien mit einer Vertiefung in fernöstliche Mystik verbunden. Buddhistische und taoistische Schriften bestärkten ihn in seiner Überzeugung, die sich schon im Afrika-Institut von Leo Frobenius abzeichnete - dass der westliche Rationalismus eine grundlegende Deformation darstelle.
Der idyllische Aufenthalt in Cassis wurde durch das Vordringen deutscher Truppen nach zwei Jahren beendet. Erneut musste das Ehepaar Wols fliehen und fand Zuflucht in einer Kleinstadt bei Montélimar. In dieser Zeit entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Wols und dem Kunstberater Henri-Pierre Roché. Er hatte gute Kontakte zur Pariser Künstlern wie Marcel Duchamp und zu Jean-Paul Sartre. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Wols nach Paris zurück, wo in der Galerie René Drouin die erste Ausstellung seiner Aquarelle erfolgte.
Die Gemälde und Graphiken von Wols lösten bei Kunstkritikern verschiedene Assoziationen aus: Roché entdeckte Spinngewebe, Gräser, Algenwälder, Armbanduhren, Ungeheuer, Mollusken und Schuppenflechten. Und dem Kunstkritiker und Sammler Georges Besson missfielen Facetten, die mit Sartres Roman "Der Ekel" korrespondierten: "Es gibt Querschnitte von Geschwülsten, Gedärmen, Schimmel, Schuppengeflechte, Röteln - Details aus dem Gebiet der Dermatologie, die jeden anwidern".
Sartre-Text mit Folgen
Jean-Paul Sartre, der sich mit Wols anfreundete und ihn großzügig finanziell unterstützte, verfasste einen folgenschweren Text, der von verschiedenen Interpreten wie dem Kunsthistoriker Werner Haftmann übernommen wurde und Jahrzehnte lang den Mythos des am Leben und der Welt verzweifelnden Märtyrers prägte.
Für Sartre war Wols "der sanft Geworfene, der aufzeichnete, was mit ihm geschah: - nicht das Faktische, sondern die Bilder, die aus der Wunde strömten, die das Leben schlug. Alles wurde treulich bezahlt. Wo das Infernalische und Satanische in dieses Leben einbrach, zögerte er auch nicht, den hohen Preis der Selbstzerstörung zu erlegen".
Wie dieses Missverständnis zustandekam, rekonstruiert Patrycja de Bieberstein Ilgner: "Es gibt einen Text des Kunstkritikers René Guilly, in dem er über die Bilder von Wols schreibt, dass sie mit Blut gemalt sind. Das ist leider von Werner Haftmann und Sartre falsch verstanden worden. Es ging Guilly vielmehr um die Authentizität und Plastizität, die die Bilder vermitteln". Die Kunsthistorikerin plädiert dafür, Sartres usurpatorische Wundenmetaphorik zu korrigieren.
Gedankensplitter
Es gibt noch einen wesentlichen Widerspruch zwischen dem philosophischen Denken Sartres und der Kunsttheorie von Wols. Sartre nahm in seinem frühen Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" eine Abwertung der "Dingwelt" vor - die Welt der Felsen, Bäche und Steine fand keine Beachtung. Diese Abwertung wurde keineswegs von Wols geteilt. Für ihn existierte keine Hierarchie des Seienden, keine Überlegenheit des Menschen. "Der wahre Kommunismus muss sich ebenfalls beziehen auf die Tiere, auf die Steine, auf die Pflanzen, auf die Seelen, auf die Sterne, auf’s Wasser", schrieb er.
Dieser Aphorismus von Wols ist Teil einer Sammlung von Texten, die unter dem Titel "Le petit livre noir" - "Das kleine schwarze Buch" - erschienen ist. Es enthält Zitate von unterschiedlichen Autoren wie Lao Tse, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Lautréamont oder Antonin Artaud, die Wols zusammengestellt hatte. "Man erzählt seine kleinen irdischen Fabeln auf kleinen Stückchen Papier", schrieb Wols. Diese Gedankensplitter stellten für ihn ein Reservoir dar, das ihm Inspirationen für sein künstlerisches Werk verschaffen sollte.
In den letzten Lebensjahren verfiel Wols immer mehr dem exzessiven Alkoholkonsum. Simone de Beauvoir berichtet, dass er "täglich einen Liter Grappa" trank und sie ihn nie nüchtern gesehen habe; meist war er "zerlumpt, unrasiert wie ein Clochard". Im Endstadium wurde er täglich, von Freunden gestützt, von seiner spartanisch ausgestatteten Wohnung in die Rhumerie Martiniquaise gebracht, wohin er nach Mitternacht zurückgetragen werden musste.
Er rechtfertigte seine Alkoholabhängigkeit mit dem Argument, er brauche seinen Rum, seinen Sprit, um weiter zu laufen. Der Sprit hat erheblich zu seinem Tod beigetragen, der am 1. September 1951 erfolgte. Die amerikanische Kunstsammlerin Dominique du Menil brachte die paradoxe Existenz von Wols auf den Punkt: "Er war der absolute Rebell, der sich nicht einmal um Rebellion scherte."
Literatur:
Wols. Die Gemälde. Paris 1946-1951, herausgegeben von Patrycja de Bieberstein Ilgner, Schirmer/Mosel Verlag, September 2021, 240 S., 100,80 Euro.
Wols: Die Aphorismen, herausgegeben von Hans-Joachim Petersen, Schirmer/Mosel 2010, 192 S., 25,50 Euro.
Nikolaus Halmer, geboren 1958, ist Mitarbeiter der Wissenschaftsredaktion des ORF; Schwerpunkte: Philosophie, Kulturwissenschaften.