Zum Hauptinhalt springen

Der (Alb-)Traum von einem Großalbanien

Von Jan Richard

Politik

Ein Gespenst geht um auf dem Balkan: Großalbanien. Das ist die Idee, die über fünf Länder verstreut lebenden Albaner in einem Staatsgebilde zu sammeln, die immer wieder auch in den "Programmen" albanischer Guerilla-Organisationen aufgetaucht ist. Ist die Schaffung eines Großalbanien wirklich eine reale Gefahr, so wie es die Idee eines Großserbien durch den ehemaligen serbischen Diktator Milosevic war? Oder ist es bloß ein Bluff von albanischen Mafiosi, die für ihre schmutzigen Geschäfte ein politisches Deckmäntelchen brauchen? Oder doch nur Mythos und Legende?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In regelmäßigen Abständen von ein paar Wochen beunruhigen Erklärungen und Vorfälle, die das ohnehin noch sehr labile Gleichgewicht auf dem Balkan zu gefährden drohen: Da erklärte etwa Anfang Mai der Führer der radikal-nationalistischen Partei " Serbische Einheit", Borislav Pelevic, dass albanische Terroristen und die NATO den Kosovo, die "Wiege des Serbentums" besetzt hielten, um es Albanien einzuverleiben.

Die reichliche mysteriöse, nichtsdestotrotz existente "Albanische Nationale Armee" (UKM) in Montenegro droht damit, massive "Probleme auf dem ganzen Balkan" zu verursachen, wenn die Albaner weiterhin diskriminiert würden. Ihr Kommandant Meti spricht von den "Pseudostaaten" Serbien und Montenegro, die auf einem Gebiet errichtet wurden, das "von Natur aus albanisch" ist. Er lässt anklingen, dass alle Albaner in einem Staat vereint leben sollen und dies ein langfristiges Ziel sei.

In einer der jüngsten Ausgaben der mazedonischen Wochenzeitung "Forum" wird gar behauptet, die Albaner hätten territoriale Ambitionen nicht nur in Mazedonien, Südserbien und Montenegro, sondern auch gegenüber Griechenland (wo eine albanische Minderheit lebt, ebenso wie eine griechische Minderheit, die Cham, in Albanien vorhanden ist). Albaner hätten in ihrer typischen Strategie nun auch Bulgarien ins Auge gefasst, wo man in Sofia und Varna Gebäude und Grundstücke aufkaufe, um den Zuzug von albanischen Großfamilien zu ermöglichen, was unweigerlich den Nachzug weiterer Albaner zur Folge hätte.

Nun mag man als Mitteleuropäer solche Äußerungen überheblich als typisch "balkanische Paranoia" abtun, was aber nichts daran ändert, dass es in den betroffenen Ländern und bei den Menschen einfach Ängste gibt, die man Ernst nehmen muss und die ein realer politischer Faktor sind.

Allerdings, so sind sich alle Fachleute einig, ist die Angst vor der Schaffung eines womöglich mit Waffengewalt errichteten "Großalbanien" reichlich unbegründet, die vor albanischen Unruhen und Gewaltakten aber durchaus und nach wie vor gerechtfertigt, auch wenn diese meist als Ergebnis einer vielfältigen und alltäglichen Diskriminierung oder als Reaktion auf einen anderen militanten Nationalismus, nämlich den serbischen, verstanden werden können.

Nicht auszuschließen ist freilich, dass es sich gelegentlich auch um einen "Bluff" handelt, wie selbst das mazedonische "Forum" einräumt: Albanische Drogenbarone und Menschenschmuggler würden Unruhen schüren, um dann im ausbrechenden Chaos besser ihre schmutzigen Geschäfte machen zu können.

Albaner entwickelten jeweils verschiedene Identitäten

Was aber die Idee von Großalbanien eher doch in das Reich der Mythen und Legenden verweist, ist die Tatsache, dass nach mehr als einem Jahrhundert ständig neuer Grenzziehungen auf dem Balkan, die ethnischen Albaner in Albanien, im Kosovo, in Serbien und Montenegro, in Mazedonien und Griechenland sich durchaus unterschiedlich entwickelt haben und in ihren "Gastländern" jeweils eigene kulturelle, sozio-ökonomische und sogar politische Eigenheiten entwickelt haben, die kaum in einem Staatsgebilde integriert werden könnten.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Im kommunistischen Albanien des Diktators Enver Hoxha wurde nach 1945 systematisch das traditionelle Albanertum, seine Sitten und Gebräuche ausgerottet, die Ausübung der islamischen Religion sogar per Verfassung verboten.

Im der mehrheitlich von Albanern besiedelten autonomen Provinz Kosovo des titoistischen Vielvölkerstaates Jugoslawien war dies viel weniger der Fall und ungeachtet der de facto Diskriminierung der Albaner im Kosovo war diese serbische Provinz weitaus "albanischer" als das "Mutterland" Albanien, mit dem die Kosovaren so gar nichts anzufangen wussten.

Nach der Wende, dem Ende der kommunistischen Herrschaft und dem Entstehen eines Mehrparteiensystems in Albanien, war das Hauptaugenmerk nicht auf die "nationale" Frage gerichtet (man hatte ja einen eigenen Nationalstaat), sondern vielmehr auf die Überwindung der sozialen und wirtschaftlichen Rückständigkeit.

Nicht gegen, sondern mit Regierungen der Gastländer

Was die Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, in Tirana anlangt, so waren sie nach 1990 stets bemüht, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen mit den anderen Staaten des Balkans lebenden albanischen Volksgruppen herzustellen, aber nicht gegen die Regierungen der Gastländer, sondern vielmehr im Einverständnis mit ihnen. So ist als Faktum fest zu halten, dass Albanien selbst bisher das geringste Interesse an einem "Großalbanien" gezeigt hat.

Das hat auch mit der großfamiliären oder Clan-Struktur der politischen Eliten zu tun. In Albanien herrscht der Clan der Tosk; wenn es - hypothetisch - zu einem Anschluss des Kosovo und der albanisch-mazedonischen Gebiete käme, dann hätte plötzlich der andere Clan, nämlich die Ghegs, die Überhand.

Und obwohl Albanien während der Offensive der Serbien im Kosovo 1998 und 1999 Zehntausende Flüchtlinge vorübergehend aufnahm und es so etwas wie ein pan-albanisches Gemeinschaftsgefühl gab (das übrigens auch in alten Liedern und Balladen beschworen wird), kam es Tirana nie in den Sinn für den Kampf der ethnischen Albaner in Südserbien (Presevo-Tal) oder in Mazedonien Partei zu ergreifen oder ihn gar aktiv zu unterstützen.

Was die Albaner im Kosovo anlangt, so lässt sich simplifiziert sagen, dass sie - nach der aggressiven und verheerenden Politik des "Großserben" Milosevic - noch immer um ihre nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit kämpfen müssen, die sowohl von Belgrad, als auch der EU und NATO kategorisch abgelehnt wird. Einen "Anschluss" an Albanien wünscht sich aber die Mehrheit der Kosovaren keineswegs, auch wenn Kleinparteien im Kosovo dies nach wie vor im Programm haben.

Ähnliches gilt auch für die ethnischen Albaner in Südserbien, wo nur eine Minderheit pan-albanischen Träumen nachhängt, die Mehrheit aber in Serbien verbleiben will, jedoch mit einem weitgehenden Autonomiestatut, wie es der Kosovo seit 1974 in der titoistischen Verfassung gehabt hat und das erst Milosevic wieder rückgängig machte.

Komplexer ist die Lage der ethnischen Albaner in Mazedonien. Sie sind zu einer Koexistenz mit dem mazedonischen Staat bereit, der ihnen über Druck auch vielfältige Rechte (bis hin zu einer eigenen Universität) eingeräumt hat. Was noch praktisch aussteht, ist eine garantierte lokale Selbstverwaltung und eine angemessene Repräsentation auf Bundesebene. Aber in Mazedonien scheint der Ausbruch neuer Gewalt und Unruhen jedenfalls gebannt.

In den vergangenen fünf Jahren haben die "Kosovo Befreiungsarmee" (KLA), die "Nationale Befreiungsarmee" (NLA) in Mazedonien und andere, eher lokale Guerillagruppen wie die "Bujanovc Befreiungsarmee" (PMBLA) im Presevo-Tal und Medvegja versucht, durch Demonstrationen, Gewaltakte und auch Terror Rechte zu erkämpfen. Es ist aber gelungen, sowohl in Mazedonien, als auch in Südserbien, durch Abkommen, die auch international garantiert wurden, die Situation zu entschärfen. Für Mazedonien ist dies das Abkommen von Ochrid bzw. der Covic-Plan für Südserbien, die beide 2001 angenommen und nachfolgend (oft zögernd und mit Rückschlägen, aber dennoch) umgesetzt wurden.

Großalbanische Ideen ziehen nicht mehr

Interessant dabei ist, dass - wie auch eine neue Studie der "International Crisis Group" belegt -die Unterstützung für die Guerillagruppen KLA und NLA in der albanischen Bevölkerung zunahm, wenn es um konkrete Vorhaben (etwas die ethnisch gemischte Zusammensetzung von Polizeistreifen) ging; sie nahm aber dramatisch ab, sobald "großalbanische" Ideen ins Spiel gebracht wurden. Das ist vielleicht das stärkste Indiz dafür, dass die Idee eines "Großalbanien" keine reale Gefahr darstellt, sondern eher ein Mythos ist, der an Glanz und Attraktivität stark eingebüßt hat.

Was zählt sind die zahlreichen Probleme der Albaner in allen Balkanstaaten. Ihre Zahl wächst viel rascher als die alternden Bevölkerungen der anderen Nationen. Die Vier- und Mehrkinderfamilie ist typisch. Die Albaner wollen kulturelle Gleichberechtigung (eigene Schulen und Universitäten), sie wollen ökonomische Gleichberechtigung (ein "Schikpetar" zu sein heißt in vielen Ländern des Balkans einfach von höherer und besser bezahlter Arbeit ausgeschlossen zu sein), sie wollen eine Ende der alltäglichen Diskriminierung, die selbst dann von seiten der Mehrheitsvölker stattfindet, auch wenn sie durch Gesetz und Verfassung verboten ist.