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Der allerletzte Ritter

Von Arthur Fürnhammer

Wissen
Hans Graf Wilczek 1907, fotografiert von Carl Pietzner.
© Foto: wikipedia

Ein untypischer Aristokrat, der zeigte, dass "Adel" von "edel" herkommt: Vor 175 Jahren wurde der österreichische Polarforscher, Philantrop und Kunstmäzen Hans Graf Wilczek geboren.


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Hans Graf Wilczek war kein gewöhnlicher Adeliger. Er stammte aus einem bis ins 12. Jahrhundert zurückreichenden polnischen Geschlecht, war Besitzer der zweitgrößten Kohlegrube des Reichs und einer der vermögendsten Männer der Monarchie.

Graf Wilczek galt jedoch als äußerst genügsam, trug jahrelang den gleichen Mantel und schlief bis zu seinem 60. Lebensjahr anstatt in einem Bett auf einem Bretterboden, über den ein Fell gelegt war. Er war fast zwei Meter groß, im persönlichen Umgang ernst, nicht sehr gesprächig und bescheiden. Obwohl Mitglied des Herrenhauses, hasste er nichts mehr als Politik und diente seinem Land und der Gesellschaft dennoch mehr als so mancher Politiker.

Frühes Kunstinteresse

Johann Nepomuk Graf Wilczek kam vor 175 Jahren, am 7. Dezember 1837 im Palais Wilczek in der Wiener Herrengasse zur Welt. Seine Jugend verbrachte er in Schloss Seebarn bei Korneuburg. Als Wilczek zehn war, starb sein Vater. Sein Vormund, ein Vetter, übte auf seine Neigungen und Interessen jedoch genauso wenig Einfluss aus wie zuvor seine Eltern. Seine Mutter versuchte ihn von Mitschülern fernzuhalten und gab ihn erst spät in eine öffentliche Schule. Von seinen Lehrern behauptete Wilczek später, "sehr wenig oder gar nichts" gelernt zu haben.

Sehr bald begann sich Wilczek für mittelalterliche und frühneuzeitliche Kunst zu interessieren. Im Alter von dreizehn Jahren erwarb er von seinem angesparten Taschengeld seine ersten Inkunabeln. Früh entwickelte sich auch sein Drang nach Bewegung und körperlicher Ertüchtigung. Er galt als einer der besten Läufer seiner Zeit, gewann ein international besetztes Hochsprungturnier in Leipzig, nahm an Ruderregatten teil und war begeisterter Jäger. Noch nicht zwanzigjährig, durchwanderte er von Krakau bis Triest und Salzburg große Gebiete des damaligen Österreichs und Teile der Alpen. Im Zuge ethnografischer Studien bereiste er 1863 den Kaukasus und die Krim. 1858 heiratete er Gräfin Emma Emo-Capodilista (1833-1924), eine Hofdame von Erzherzogin Sophie, der Mutter von Kaiser Franz-Joseph. Mir ihr hatte er vier Kinder.

Im Jahr 1866 ließ er sich, obwohl ihm eine Offiziersstelle zustand, als einfacher Soldat zum 9. Jägerbataillon anwerben. Als solcher trug er bei Königgrätz einen verwundeten Hauptmann aus dem Kugelregen und erhielt dafür die Goldene Tapferkeitsmedaille.

1868 und 1870 bereiste er zweimal Afrika, um sich danach mit großen Plänen mathematischen, naturwissenschaftlichen und nautischen Studien zuzuwenden. Der deutsche Geograph August Petermann hatte sein Interesse an der Polarregion geweckt und ihn von der Möglichkeit einer schaffbaren Passage durch das nördliche Eismeer überzeugt.

Nach zwei gescheiterten deutschen Nordpolexpeditionen (1868 und 1869/70) initiierte Wilczek die Österreichisch-Ungarische Nordpolexpedition. Er finanzierte den Bau des Schoners Admiral Tegetthoff und die nötigen Anschaffungen für die Expedition. Nach zwei Überwinterungen (nur eine war geplant) gelangte fast die gesamte Mannschaft von rund 30 Mann, angeführt von den k.u.k. Offizieren Julius von Payer und Carl Weyprecht, zurück nach Wien, wo sie im Sommer 1874 triumphal empfangen wurde. Die Nordostpassage wurde zwar nicht gefunden, dafür entdeckte man die letzte noch unbekannte Landmasse der Welt, einen vereisten, vulkanischen Inselarchipel, den man zu Ehren des Kaisers "Franz-Josef-Land" nannte.

1874, im Jahr der Rückkehr der Expedition, begann Wilczek mit dem Wiederaufbau der von den Schweden zerstörten Burg Kreu-zenstein. Ursprünglich wollte Wilczek nur die Familiengruft von Schlesien an den seit Urahnen im Besitz der Wilczek befindlichen Burgplatz verlegen. Bald jedoch nahm der Gedanke überhand, die gesamte Burg wiederaufzubauen. 30 Jahre später hatte der Mittelalterliebhaber die Idealvorstellung einer mittelalterlichen Wehranlage verwirklicht. Kreuzenstein war am Ende zwar bewohnbar eingerichtet, diente aber nur als Museum für seine mehr als 10.000 Objekte umfassende Kunstsammlungen.

Als Kämmerer am Hof

Zwischen seinen Abenteuern und breit gefächerten Beschäftigungen verrichtete Wilczek einige Jahre lang auch Dienst am Hof. Er war dem Kaiser als Kämmerer zugeteilt. Das Amt des Kämmerers war ausschließlich Mitgliedern des Hochadels vorbehalten und das wichtigste Ehrenamt am Wiener Hof. Kämmerer wurden unter anderem als adeliges Ehrengeleit bedeutender Gäste zugeteilt. Dass Wilczek für diese Aufgaben nicht gänzlich geeignet war, zeigte ein Vorfall während des Besuchs von Kaiser Napoleon III. und dessen Gemahlin Eugenie. Wilczek begleitete die beiden durch eine Wanderung auf den Salzburger Untersberg und wählte dabei einen Weg, der so gefährlich war, dass er die Kaiserin, wie gern berichtet wird, großteils tragen musste. Nach der Wiener Weltausstellung 1873, bei der er kaiserlicher Hof-Zeremonienmeister war, beendete Wilczek seine Dienste bei Hof.

Kaisers Nebenbuhler

Zu einem eher angespannten Verhältnis zum Kaiser kam es Ende der 1880er Jahre, als Wilczek zu dessen Nebenbuhler um die Gunst der Burgschauspielerin Katharina Schratt wurde. Briefe, die erst vor wenigen Jahren ans Tageslicht kamen, offenbaren, dass Wilczek der Schauspielerin fast täglich seine Liebe beschwor. Katharina Schratt, die im Übrigen selbst verheiratet war, ließ sich aber in ihrer Zuwendung zu Kaiser Franz Joseph nicht beirren und blieb diesem bis zu seinem Tod verbunden.

Wenig Gefallen dürfte der Kaiser auch an Wilczeks Beziehung zu Kronprinz Rudolf gefunden haben. Dieser fand in dem aufgeklärten und liberal denkenden Adeligen einen seiner engsten Vertrauten. Wilczek hielt den Prinzen, mit dem er gemeinsame Reisen nach Spanien und Marokko unternahm, für einen der begabtesten Männer seiner Zeit und half diesem auch bei der Erstellung seiner "Enzyklopädie Österreich-Ungarns", dem sogenannten Kronprinzenwerk.

Wilczek war mit den bekanntesten Künstlern seiner Zeit befreundet. Hans Makart holte er nach Wien und organisierte mit diesem 1879 den "Makart-Festzug" zur fünfundzwanzigjährigen Vermählungsfeier des Kaiserpaares. Besonders freundschaftlich war das Verhältnis zum stets von finanziellen Sorgen geplagten Hans Canon. Nach dessen Ableben unterstützte er dessen Witwe und war Vormund ihrer noch minderjährigen Kinder.

Auch das k.u.k. Heeresmuseum (heute Heeresgeschichtliches Museum) fand in Graf Wilczek einen besonderen Förderer. Bei der Eröffnungsfeier führte Wilczek persönlich den Kaiser durch die Schauräume.

Wilczek war nicht nur Kunstmäzen, sondern auch Philan-throp. 1874 rief er ein Studentenkonvikt ins Leben, das Quartier und Ausspeisung für mittellose Studenten zur Verfügung stellte. 1881 gründete er die Mensa der Wiener Universität. Im Jahr darauf finanzierte er auf Anregung von Theodor Billroth das Rudolfinerhaus, eine Ausbildungsanstalt für Pflegerinnen. 1883 wurde er Ehrenbürger Wiens.

Nach dem Ringtheaterbrand im Dezember 1881, bei dem fast 400 Menschen ums Leben kamen, gründete er gemeinsam mit Baron von Mundy innerhalb von 24 Stunden die Erste Freiwillige Wiener Rettungsgesellschaft, damals die erste Rettungsorganisation in Wien. Die Gesellschaft war geographisch nicht auf Wien begrenzt und kam auch beim Erdbeben von Messina 1908 zum Einsatz, wo Graf Wilczek selbst den Wiener Hilfszug leitete. Das Erdbeben von Messina war die nach Opfern schwerste Naturkatastrophe Europas im 20. Jahrhundert, bei der die Städte Messina und Reggio Calabria nahezu völlig zerstört wurden und zwischen 72.000 und 110.000 Einwohner ihr Leben verloren.

Rührende Ovationen

Wie für Wilczek typisch, beschränkte sich sein Einsatz auch hier nicht darin, zu organisieren oder Geldmittel aufzuwenden, der Graf stellte sich auch selbst zur Verfügung. Der Schriftsteller Karl Rosner beschrieb den Auftritt des Einundsiebzigjährigen, der persönlich bei den Ausspeisungen mithalf, so: "Er war überall Gegenstand rührender Ovationen. Manche hielten ihn für den Bruder Garibaldis, weil man bei ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem italienischen Nationalhelden entdeckt haben wollte; aber auch nach Aufklärung des Irrtums blieb er der Held des Tages . . ."

Wilczek, der Mann, der kaum die Schulbank gedrückt hatte, brachte es im Lauf der Jahre zu zahllosen wissenschaftlichen Ehrenstellen. Auch auf technischem Gebiet war Wilczek für Pioniertaten zu haben. 1902 gelang ihm die Errichtung der ersten radiotelegrafischen Station Österreichs und die Herstellung einer drahtlosen Verbindung zwischen Burg Kreuzenstein und dem acht Kilometer entfernten Seebarn.

1913 organisierte Wilczek noch einmal eine große Expedition, diesmal zur Erforschung des Südpols. Das Polarschiff "Austria" lag bereits in Triest vor Anker, doch der Erste Weltkrieg machte die weiteren Pläne zunichte. Diesem Krieg galt auch den letzten Einsatz des großen Menschfreundes Wilczek. Als Präsident der Wiener Rettungsgesellschaft organisierte er einen Lazarettzug, um Verwundete aus dem galizischen Kriegsgebiet in Krankenhäuser im Hinterland zu bringen. Auf insgesamt 165 Fahrten wurden dabei über 40.000 Verwundete transportiert.

Das Zeitalter der Romantik mit seiner Hinwendung zum Mittelalter und den Idealen der Ritterlichkeit hat Hans Graf Wilczek geprägt. Doch genauso hat er auch seine Zeit geprägt. Er hat nicht nur Kreuzenstein nach romantischen Vorstellungen wiederaufbauen lassen. Er hat auch in seinem Leben und Handeln die alten ritterlichen Tugenden verwirklicht: Maßvolles Leben, Anstand, Würde, Höflichkeit, Großzügigkeit, Freigiebigkeit und Tapferkeit hatten einst das Ansehen des Rittertums und des Adels begründet und den Adel als vornehmsten Stand legitimiert. Kaiser Maximilian I., den Wilczek verehrte, wurde aufgrund seiner Vorliebe für Turniere "der letzte Ritter" genannt. Gleiches ließe sich auch für den untypischen Aristokraten mit schlesischen Wurzeln sagen, der in der Endzeit des Adels noch einmal zeigte, dass Adel von edel herkommt.

Kurz vor seinem Tod, als hätte es einer offiziellen Bestätigung dafür bedurft, wurde Wilczek neben all seinen Ehrungen von Kaiser Karl, dem letzten Habsburger, noch in den Ritterorden vom Goldenen Vlies aufgenommen.

Johann Nepomuk Graf Wilczek starb am 27. Jänner 1922 in Wien. Unter der Kapelle der Burg Kreuzenstein fand er seine letzte Ruhestätte.

Arthur Fürnhammer, geboren 1972, lebt als freier Autor und Journalist in Wien. 2013 erscheinen die gesammelten Folgen seines "Tschocherl-Reports" aus dem "Augustin" im Löcker Verlag.