)
Geldsorgen hatte Johann Wolfgang von Goethe bekanntlich nie. Auch deshalb nicht, weil sein Großvater Friedrich Georg Göthé als Schneidermeister reüssierte.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Familie Goethe lebte in Frankfurt in einem großen Haus am Großen Hirschgraben - auch heute ahnt man bei einem Besuch in Goethes Geburtshaus, dass der Wohlstand hier daheim war. Vater Johann Caspar Goethe (1710-1782) verbrachte den Großteil seines Lebens als Privatier und war hauptsächlich mit der Ausbildung der Kinder, der Aufarbeitung seiner Italien-Reise und mit der Verwaltung seines Vermögens beschäftigt. Woher aber stammte dieses Vermögen, das Johann Caspar diese Freiheiten ermöglichte?
Noch eine Generation zurück, und wir stoßen auf Friedrich Georg Göthe (später Göthé; 1657-1730), den Großvater von Johann Wolfgang, der erst in jüngster Zeit zum Forschungsobjekt wurde. Während sein Sohn und vor allem sein Enkel Künstlernaturen waren, wurde der Großvater ein höchst erfolgreicher Geschäftsmann. Er kam aus bescheidenen Verhältnissen und hatte ein beachtliches Vermögen angehäuft, von dem noch Generationen zehren sollten.

Glücksfall Seide
Friedrich Georg Göthe stammte aus einer Hufschmiedfamilie aus Thüringen. Als Erstgeborener sollte er eigentlich den väterlichen Betrieb übernehmen. Warum er es nicht tat, wissen wir nicht. Mit 14 oder 15 begann er jedenfalls eine Schneiderlehre und legte damit, ohne es zu wissen, den Grundstein für sein späteres Vermögen. Bereits mit 17 wurde er Geselle und durfte auf Wanderschaft gehen - und es wurde sowohl von der Länge als auch von den Zielen eine höchst ungewöhnliche Wanderschaft. Zunächst zog der junge Friedrich Georg in Deutschland herum, kam dann nach Straßburg und schließlich im Jahr 1681 nach Lyon, wo er viereinhalb Jahre blieb. Insgesamt dauerte seine Wanderschaft zwölf Jahre.
Lyon sollte den jungen Mann aus der deutschen Provinz nachhaltig verändern. Die Stadt hatte gegen Ende des 17. Jahrhunderts rund 100.000 Einwohner, war als Messezentrum und Handelsplatz für Seide berühmt. Und genau die Seide war der Glücksfall für
Göthe, der in Lyon seinen Namen auf Göthé änderte. Er war in Seidenschneidereien tätig, erlernte Techniken der Seidenverarbeitung und kam hautnah mit der französischen Mode in Berührung. Bereits in Lyon verdiente Göthé recht gut. Wahrscheinlich wäre er auch geblieben, hätte er nicht 1685 nach dem Edikt von Fontainebleau, das die Religionsfreiheit beendete, als Protestant das Land verlassen müssen.
Göthé ging trotzdem zunächst für kurze Zeit nach Paris, wo er nochmals intensiven Kontakt mit französischer Mode hatte, dann erst zurück nach Deutschland. In seinem Heimatort Artern gab es für den weltgewandten Monsieur Göthé keine Zukunft. Der kleine Ort litt unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges und unter den Nachwirkungen eines Feuers. Die Menschen hatten für Haute Couture absolut kein Geld - und waren auch nicht das richtige Zielpublikum. Göthé entschied daher, sich 1686 in Frankfurt niederzulassen. Dort arbeitete er zunächst bei einem Schneidermeister, bei dem er die Meisterprüfung ablegte und dessen Tochter Anna Elisabeth er schon im nächsten Jahr heiratete - dadurch erlangte er alle Bürgerrechte in der Freien Reichsstadt Frankfurt.
Dass Göthé bereits zu Beginn seines Aufenthalts in Frankfurt wohlhabend war, merkte man daran, dass er den Eintrag ins Bürgerbuch der Stadt, der immerhin 19 Gulden kostete, sofort bar bezahlen konnte. Ein normaler Schneider verdiente damals etwa 10 Kreuzer in der Woche. Im Jahr 1687 versteuerte Göthé immerhin bereits 300 Gulden Jahresverdienst (das wäre eine heutige Kaufkraft von rund 15.000 Euro), siebzehn Jahre später betrug sein zu versteuernder Jahresverdienst bereits 15.000 Gulden (ca. 750.000 Euro). All diese Steuerdaten sind in Frankfurt heute noch verfügbar.

Göthé eröffnete bald einen eigenen Schneiderladen, oder besser: Salon, denn er kreierte französische Mode aus edlen Stoffen. Die gehobene Gesellschaft kaufte bei Göthé, der die komplizierten Fertigungstechniken der spätbarocken Mode perfekt beherrschte. Selbstredend verlangte er auch sehr gehobene Preise. Der französische Name war dem Geschäft durchaus zuträglich.
Wie erfolgreich der Salon Göthé war, kann man auch an einem Zwist mit der Schneiderzunft erkennen: Die Zunftordnung gestatte nur die Beschäftigung von zwei Gesellen, Göthé beschäftigte aber zeitweise bis zu neun Gesellen. Durch diese Beschränkung sollten Großbetriebe als übermächtige Konkurrenz der kleinen Schneidereien vermieden werden.
Offene Rechnungen
Um Zahlungsausfälle bei Neukunden zu vermeiden, holte Göthé (wie andere Handwerker auch) vor Auftragszusage Referenzen ein. Denn schon Abraham a Sancta Clara mahnte von der Kanzel: "O wie offt pranget mancher in Sammet und Seiden daher, und das Kleid ist noch nicht bezahlet".
Bei sehr vornehmer, adeliger Kundschaft wurden allerdings schon einmal Ausnahmen gemacht. Zu Ostern 1694 erhielt Göthé von einer vornehmen jungen Dame mehrere bedeutende Aufträge. Die Kundin war Maria Sibylla, zweite Gattin von Johann Wolfgang Textor d. Ä., Rechtsberater der freien Reichsstadt, Vizepräsident des Hof- und Ehegerichts und Dekan der Heidelberger Universität. Klingt gut als Referenz, dachte Göthé wohl. Was er aber nicht wusste: Die erst 18-jährige Maria Sibylla war mit der Verehelichung mit dem 25-jährigen Textor absolut nicht einverstanden.
Ein Dreivierteljahr nach der Hochzeit machte sie um 2000 Gulden Bestellungen bei Göthé und anderen Handwerkern, holte die Waren noch ab - und verschwand dann aus Frankfurt. Die Ehe wurde in ihrer Abwesenheit im September 1695 geschieden, die Rechnungen blieben offen. Göthé, bei dem es um einen Betrag von fast 100 Gulden ging, wandte sich an das Frankfurter Schöffengericht und blitzte dort ab, weil Johann Wolfgang Textor glaubhaft versicherte, er hätte die Kleider nicht bestellt.
Doch Göthé gab nicht auf und ging bis zum Reichskammergericht in Wetzlar, das den Fall gegen den hoch angesehenen Bürger Johann Wolfgang Textor in die Länge zog und nach dessen Tod im Jahr 1701 als unerledigt schloss. Was der um sein Geld betrogene Friedrich Georg Göthé nicht ahnen konnte: Fast fünfzig Jahre später sollte sein Sohn Johann Caspar die Enkelin seines Prozessgegners heiraten. Aus dieser Ehe wurde 1749 Johann Wolfgang von Goethe geboren.
Am 6. August 1700 starb Friedrich Georg Göthés Ehefrau Anna Elisabeth mit 33 Jahren nach der Geburt des fünften Kindes. Für den Witwer war das nicht nur ein schwerer persönlicher Schlag, es bedeutete auch ein Organisationsproblem, den Betrieb der Schneiderei mit den Kindern unter einen Hut zu bekommen. Immerhin schaffte er es fünf Jahre lang. An der Zeil im Herzen Frankfurts befand sich das Wirtshaus Weidenhof, dessen Besitzer, Johann Schellhorn, im September 1704 starb. Den Betrieb erbte seine kinderlose Gattin Anna Kornelia, die sich aber außerstande sah, die Wirtschaft alleine weiterzuführen. Göthé, inzwischen 47 und öfters zu Gast im Weidenhof, machte der 36-jährigen Witwe ein Angebot, und am 4. Mai 1705 wurde geheiratet. Wie sollte es weitergehen? Beide Betriebe weiterzuführen - das wäre unmöglich gewesen. Göthé entschied sich, wohl nach genauem Studium der Umsatzzahlen beider Betriebe, das Gasthaus zu betreiben. Nun war er also Gastwirt und blieb es bis zu seinem Tod 1730.
Das Ehepaar schaffte es, den Weidenhof von einem durchschnittlichen Wirtshaus zu einem der besten in Frankfurt aufsteigen zu lassen. Mehrsprachige Speisekarten mit großer Auswahl an Gerichten und gehobenen Preisen sind erhalten; die eleganten Manieren des Wirtes sprachen sich herum, die Hotelzimmer boten gute Qualität, was damals keine Selbstverständlichkeit war.
Seine Hartnäckigkeit und seinen Gerechtigkeitssinn stellte Göthé auch als Gastwirt unter Beweis. Noch zu Lebzeiten ihres ersten Mannes, so erzählte seine Frau, gab es einen größeren Fall von Zechprellerei. Der Name des Täters sei bekannt, er habe damals einige seiner Pferde dem alten Wirten verpfändet, lebe aber nicht mehr in Frankfurt. Nach dem Tod des Zechprellers bat Göthé das Gericht, die Pferde schnell verkaufen zu dürfen, denn durch die Fütterung hätte er nur Unkosten. Das Gericht gab dem Antrag statt. Göthé erhielt 1708 den Betrag von 120 Gulden.

Nach Göthés Tod führte die Witwe den Weidenhof nur kurz weiter und verkaufte den Betrieb um 19.000 Gulden. Nach mehrmaligem Besitzerwechsel wurde der Gasthof 1843 niedergerissen. Heute erinnert ein Imbisslokal namens Weidenhof mitten in der Fußgängerzone Zeil unweit des alten Standorts an den historischen Gasthof.
Göthé hinterließ ein Erbe aus Barvermögen, Grundstücken und Immobilien, das nach heutiger Kaufkraft auf rund 4,5 Millionen Euro geschätzt wird. Göthé hatte mit Anna Kornelia drei Kinder, von denen nur der 1710 geborene Johann Caspar überlebte. Während die Kinder aus erster Ehe Handwerke erlernten, ermöglichten die Eltern Johann Caspar einen Bildungsaufstieg, der ihn auch sozial nach oben bringen sollte. Er durfte das Gymnasium besuchen und Jura studieren. 1739 wurde er in Gießen zum "Doctor beider Rechte" promoviert.
Kein Andenken
Nach kurzer Arbeitstätigkeit zog er sich ins Privatleben zurück, gut ausgestattet mit einem väterlichen Erbe von 15.000 Gulden und Immobilien am Großen Hirschgraben sowie 12.000 Flaschen edelster Weine. Nach dem Tod der Mutter kam noch ein Vielfaches dazu. 1748 sollte Johann Caspar Elisabeth Textor heiraten, mit deren Großvater sein Vater wie erwähnt gerichtlich zu tun hatte.
Am 28. August 1749 wurde das erste Kind, Johann Wolfgang, geboren. Wenn man einen Vater bzw. Großvater hat, der den Nachkommen ein durchaus angenehmes Leben ermöglicht, sollte man meinen, dass man in der Familie ein positives Andenken bewahrt. Nicht so bei Göthés Nachkommen: Johann Caspar ließ schon am Gymnasium seinen Namen eindeutschen und nannte sich fortan Goethe.
Das Haus am Großen Hirschgraben ließ er nach dem Tod der Mutter komplett renovieren, die Porträts der Eltern verschwanden an unzugängliche Orte, den Kindern wurde von den Großeltern väterlicherseits kaum etwas erzählt. War es Scham über die Herkunft als Schneider- bzw. Wirtskind? Zumindest etwas blieb von der Schneiderzeit des alten Friedrich Georg Göthé: das Modebewusstsein. In der Familie Goethe legte man großen Wert auf korrekte Kleidung und gab Unsummen dafür aus.
Johann Wolfgang erwähnte den Großvater väterlicherseits in "Dichtung und Wahrheit" nur sehr selten und nie mit Namen, während der Großvater Textor mütterlicherseits mehrmals sogar mit Position genannt wird.
Zum Weiterlesen:
Boehncke, Sarkowicz, Seng:
Monsieur Göthé. Die Andere
Bibliothek, 2017.