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Der Alte Kontinent will die Grenzen dicht machen

Von Heike Hausensteiner

Europaarchiv

Die Europäische Union möchte bis zum Jahr 2010 der größte wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt sein. Reich ist die EU aus sozial- und friedenspolitischer Sicht heute schon. Das wissen auch die Menschen in ärmeren Ländern und Kriegsgebieten, die sich vorrangig vom asiatischen und afrikanischen Kontinent auf die Flucht in das gelobte Europa machen. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen darauf beim EU-Gipfel in Sevilla, der ausgerechnet einen Tag nach dem weltweiten "Tag des Flüchtlings" (20. Juni) am Freitag beginnt, Antworten finden. Ist etwa die Streichung der Entwicklungshilfemittel eine Lösung?


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Europas Tische sind mit reichen Gaben gedeckt. Die Tulpen aus Holland und auch die Erdbeeren aus Spanien finden in der kalten Jahreszeit reißenden Absatz bei den Europäern. Zur Erdbeerernte in Südspanien ist die billige Arbeitskraft von eingewanderten Afrikanern unabdingbar. Offensichtlich brauchen Märkte Migranten. Von der Bevölkerung werden sie aber nur bedingt akzeptiert. Aus emotionalen Gründen. Zu groß ist die Angst vor den Einwanderern.

Wahlerfolge und Emotionen

Dass das heiß diskutierte Thema Migration nun von der spanischen Ratspräsidentschaft zum Schwerpunktthema des halbjährlichen EU-Gipfels auserkoren wurde, habe jedoch mit den jüngsten Wahlerfolgen von rechtspopulistischen Parteien in Europa "überhaupt keinen Zusammenhang", betont Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Er verweist vielmehr auf Flüchtlingstragödien der jüngsten Vergangenheit etwa in Italien oder Großbritannien. Und Österreich selbst sei einer der am meisten von den Flüchtlingsströmen betroffenen EU-Staaten. Sehr wohl einen Zusammenhang stellt hingegen EVP-Sicherheitssprecher Hubert Pirker im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" her: "Wer die Sorgen der Bevölkerung nicht anerkennt, bekommt die Le Pens vor die Nase gesetzt."

680.000 legal Eingewanderte (inklusive Saisoniers, IT-Fachkräften) zählt Europa jährlich. Zusätzlich schaffen nach Schätzungen der EU mindestens eine halbe Million Migranten unerkannt den Sprung über die europäischen Grenzen. Um dem Problem der illegalen Einwanderung Herr zu werden, sei eine Grenzsicherung "mit höheren Qualitätsnormen" notwendig, "dazu brauchen wir kompatible Systeme", sagt Pirker. Die EU setzt etwa auf das geplante Satelliten-Ortungssystem "Galileo" - das freilich seit einigen Jahren seiner Umsetzung harrt; ab 2008 soll es endlich so weit sein. Auch an gemeinsame Ausbildungsstandards für die Grenzschützer ist gedacht. Weiters soll das geplante Grenzschutzkorps besonders "sensible Grenzen" wie Meere und Flüsse ins Auge fassen. Die Kosten dafür sollen nach dem Prinzip der Lastenteilung von allen Mitgliedstaaten gemeinsam getragen werden. Dem gemeinsamem Grenzschutzkorps stehen jedoch manche Länder, etwa Schweden, kritisch gegenüber. "Der Schutz der Grenzen bleibt nationale Angelegenheit, soll aber innerhalb Europas besser koordiniert werden", unterstreicht Schüssel.

Gemeinsamer Grenzschutz . . .

Neben technischem Standard und Finanzierung soll in Sevilla auch ein Aufgabenkatalog für die Grenzüberwachung definiert werden, erwartet Pirker. Die betroffenen EU-Staaten sollten in "intensiven Kontakt mit den Ursprungsländern" der Flüchtlinge treten. Das dürfte bei Ländern wie dem Irak kein leichtes Unterfangen werden; jenen, die wieder zurück in ihre Heimat abgeschoben werden, droht im Irak zudem die Todesstrafe. "Es muss Aufklärungsarbeit geleistet werden", so Pirker. "Mit Hilfe von Schleppern wird das heilige Land oft nicht erreicht."

Bis zu 35.000 Euro pro Person, abhängig von der Distanz zwischen Ursprungsland und Wunschziel, verlangen Menschenschmuggler. Der Umsatz der Schlepper betrage mit fünf Milliarden Euro pro Jahr mehr als im Drogenhandel, betont Kanzler Schüssel. "Die EU bekennt sich zum Kampf gegen Kriminalität." Die illegale Einwanderung zu bekämpfen heiße nicht, dass eine "Festung Europa" errichtet werde. "Wir haben nicht die Absicht, aus Europa eine Festung zu machen", versicherte auch Ratspräsident José María Aznar.

Der in Sevilla zu verabschiedende Aktionsplan soll zusätzlich zur besseren Sicherung der EU-Außengrenze auch verbesserte Anstrengungen zur Schaffung eines gemeinsamen Asylraums in der EU festschreiben.

. . . und Asylraum

Derzeit sei die Regelung in den Mitgliedstaaten uneinheitlich, "oder es gibt gar keine Bestimmungen", erläutert EVP-Sicherheitssprecher Pirker. In der Asylfrage müsse es "klare Zuständigkeiten und Mindeststandards" geben, so dass Flüchtlinge EU-weit nur mehr einen Antrag auf Asyl stellen können. Eine Zentralstelle soll den Datenaustausch (beispielsweise über gefälschte Ausweise) verbessern.

Im Schnitt werden zehn Prozent der Antragsteller als "wirkliche Flüchtlinge" (etwa wegen politischer Verfolgung in ihrem Heimatland) anerkannt. Diese müssten klar von den so genannten Wirtschaftsflüchtlingen getrennt werden, betont Pirker. Welche und wieviele Wirtschaftsflüchtlinge aufgenommen werden, bei diesen Fragen bleibe die Entscheidungskompetenz allerdings bei den Mitgliedstaaten.

So weit dürften sich die EU-15 an diesem Wochenende einigen können. Heftig umstritten ist hingegen eine Sanktionsmaßnahme für Drittländer: Wenn Behörden in Ländern wie Albanien, Algerien oder Türkei Schiffe mit Flüchtlingen an Bord nicht am Auslaufen hindern und wenn sich Länder weigern, in der EU abgewiesene Flüchtlinge wieder aufzunehmen, sollen Entwicklungshilfemittel sowie Kooperationsabkommen suspendiert werden. Dagegen laufen das EU-Schwergewicht Frankreich sowie Schweden, aber auch Luxemburg Sturm. "Wir wollen mehr Zuckerbrot als Peitsche. Wenn man zu sehr auf die Peitsche setzt, ist das kontraproduktiv", wurde ein schwedischer Diplomat zitiert. Großbritannien will ebenfalls Entwicklungsländer nicht bestrafen, sondern für Wohlverhalten belohnen. "Es geht um die Balance zwischen der großen humanitären Tradition der Europäischen Union und der Bekämpfung der illegalen Einwanderung", sieht auch Deutschlands Außenminister Joschka Fischer in der Einschränkung von Entwicklungshilfe nicht das beste Mittel zum Kampf gegen illegale Einwanderung. Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie Innenminister Otto Schily wollen lieber eine schärfere Gangart.

Zuckerbrot oder Peitsche?

Allen voran streben Italien und Spanien ein hartes Vorgehen an. "Selbstverständlich wird es Sanktionen geben", kündigte auch Bundeskanzler Schüssel an. "Wir sind beunruhigt, dass unsere Hilfsgelder nicht richtig verwendet wurden", so Schüssel unter Hinweis auf die in der Vergangenheit den Palästinensern gewährten EU-Mittel. "Das ist auch Steuergeld, wir können nicht nur hineinbuttern", gibt Außenministerin Benita Ferrero-Waldner zu bedenken. Die betroffenen Länder müssten auch Eigenverantwortung übernehmen. Flüchtlingshilfe soll nicht gestrichen werden. Wirtschaftshilfe müsse aber mit entsprechenden Maßnahmen in den Ländern konditioniert werden. Ratspräsident Aznar gab sich vor Beginn des EU-Gipfels zuversichtlich, dass die Mitgliedstaaten in dieser Frage eine Einigung erzielen werden können.

Der restriktive Ansatz des scheidenden EU-Vorsitzenden wird in der zweiten Jahreshälfte seine Fortsetzung finden. Dänemark übernimmt ab 1. Juli turnusmäßig die Ratspräsidentschaft und will die Ausländerpolitik zum Hauptthema machen. Das Mitte-Rechts-Bündnis, das seit November vergangenen Jahres in Kopenhagen regiert, hat strengere Einwanderungsgesetze beschlossen (etwa Aufenthaltsgenehmigungen und Familienzusammenführungen werden erschwert) - sehr zum Missfallen Schwedens. Dort sind im ersten Quartal dieses Jahres die Asylanträge auf 7.200 (von 4.300 im ersten Quartal 2001) hochgeschnellt. Nach Ansicht des dänischen Premiers, Anders Fogh Rasmussen, könnten die ab Juli geltenden Gesetze seines Landes den EU-Partnern als Modell dienen. Übergangsfristen für den Arbeitsmarkt soll es vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung in Dänemark im Übrigen nicht geben.

Vor Beginn der EU-Beratungen über die Migration hat UNO-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson die Staats- und Regierungschefs aufgerufen, der populistischen Stimmung gegen Einwanderer und Asylbewerber nicht nachzugeben.

Zahlen & Daten

19 Millionen "Ausländer" mischen sich unter die 380 Millionen EU-Bürger. Davon sind sechs Millionen Europäer, die in einem anderen EU-Land arbeiten; die übrigen 13 Millionen kommen aus anderen Ländern. Die meisten Ausländer leben in Deutschland (7,3 Mill.), Frankreich (3,3 Mill.) und Großbritannien (2,2 Mill.). Deutschland verzeichnete 2001 EU-weit auch die meisten Asylbewerber (88.363), gefolgt von Großbritannien (88.200). Österreich liegt hier an fünfter Stelle (30.135). Die Zahl der EU-Asylgesuche ist seit 1992 (Höhepunkt des Jugoslawien-Krieges) von 675.000 auf 385.000 (2001) gefallen. Die "Illegalen" in der EU sind zahlenmäßig schwer zu fassen. Die Schätzungen reichen von 500.000 bis drei Millionen, "Schwarzarbeiter" am Bau, im Tourismus oder Putzpersonal miteingerechnet.