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Der alte Verführer wirkt auch im EU-Wahlkampf

Von Rudolf Teltscher

Gastkommentare

In Venezuela glaubt ein Obrist, das Land mit marxistischen Mitteln auf den Weg des Heils bringen zu können: mit Enteignungen, Verstaatlichungen und ähnlichem.


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Es gelingt ihm, die Augen vor den Folgen zu verschließen - etwa dem Niedergang der inländischen Lebensmittelproduktion von einer Selbstversorgungsrate von 70 auf 30 Prozent. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" muss um jeden Preis umgesetzt werden, so seine Ideologie.

In gleicher Weise lassen sich die Machthaber in Ländern charakterisieren, die noch immer dem "Sozialismus des 20. Jahrhunderts" anhängen, wie Kuba oder Nordkorea - die sind nicht blind gegenüber den Folgen. Diese sind ihnen bekannt, aber völlig gleichgültig, sie schädigen damit bewusst ihre Völker.

Ein weiterer Täterkreis lässt sich identifizieren: diejenigen, die die wirtschaftlichen Zwänge eingesehen und entsprechend reagiert haben. Die chinesische und die vietnamesische KP gebrauchen die Ideologie aus dem 19. Jahrhundert, aber als Rechtfertigung für ihre jetzige Machtposition. Sie gehen dem alten Verführer nicht auf den Leim, sie benützen ihn bloß für ihre Machtabsicherung.

Der falsche Prophet entwickelt über die längst bekannten Phänomene hinaus in der Gegenwart eine noch viel breitere Anziehungskraft - auf Naive mit ihren Transparenten auf dem Rathausplatz am 1. Mai ("Marx hatte recht"), die sich veranlasst fühlen, zum Klassenkampf aufzurufen; auf vorgebliche Intellektuelle, die meinen, sie müssten eine neue ideologische Klassenkampf- oder Umverteilungs-Diskussion entfachen.

Diese neue ideologische Ausrichtung der "Intellektuellen" hat weitgehende Wirkungen auf das gesellschaftliche Gesamtklima, die sich in ihrer Tragweite kaum abschätzen lassen. Die Auswirkungen sind in Zeiten des EU-Wahlkampfs besonders wichtig, denn die EU als ideologischen Feind und als Hort des "Neoliberalismus" darzustellen, zielt darauf ab, das Modell eines zusammenwachsenden Europas tiefgreifend zu schädigen. (Es zeigt sich, dass auch Rechte den Lockrufen des alten Verführers erliegen, auch wenn sie das nicht begreifen.)

Der Verlag, der seit vielen Jahrzehnten in (Ost-) Berlin die Bibel des bärtigen Propheten herausgibt, freut sich über die unerwartete Konjunktur, die einem Buch aus dem 19. im 21. Jahrhundert widerfahren kann. Nach den zweifelhaften "Erfolgen" der jetzt wieder in Konjunktur gekommenen Rezeptur scheint es unfassbar, dass sie noch immer Anziehungskraft ausübt.

Die Erklärung dürfte darin liegen, dass intellektuelle Anspruchslosigkeit mit Negativ-Emotionen gepaart eine attraktive Mischung ergibt. Diese Attraktion macht blind gegen die Folgen eines Irrwegs.

Rudolf Teltscher studierte Philosophie, Psychologie und Anthropologie in Wien und ist als Unternehmensberater in Russland und der Slowakei tätig.

gastkommentar

"Der falsche Prophet entwickelt über die längst bekannten

Phänomene hinaus in der Gegenwart eine

Anziehungskraft."

gastkommentar@wienerzeitung.at