In Stillfried an der March wurden Schädel und Skelettteile gefunden, die eindeutig belegen, dass hier schon in der Bronzezeit Tiere wie in einem Zoo gehalten wurden.
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Der älteste noch bestehende Tierpark Europas und der Welt ist der Wiener Tiergarten Schönbrunn. Der wirklich älteste Tierpark Europas jedoch, heute nicht mehr existent, befand sich in Stillfried an der March. Vom 9. bis 8. Jahrhundert v. Chr. (Bronzezeit) wurden in dem heute kleinen Dorf, ganz im Osten Österreichs, Wildtiere gehalten und gezüchtet.<p>In dieser Zeit befand sich die Siedlung auf dem markanten Plateau, oberhalb des heutigen Ortes, und war eine bedeutende Befestigung sowie ein religiöser, wirtschaftlicher und sozialer Bezugspunkt für die Region. Eine mächtige Wallanlage mit zwei Kilometer Umfang umschloss das 23 Hektar große Siedlungsplateau, in dem Häuser standen, Ackerbau und Viehzucht betrieben und Wölfe, Hirsche, Hasen, Rehe, Füchse und Wildschweine gezielt gehalten und vermehrt wurden.<p>Wildtiere in Gefangenschaft sind besonderes anfällig für degenerative Veränderungen. Auch die Stillfrieder Tiere litten unter pathologischen Auffälligkeiten, Anomalien und Traumata, die aber keine unmittelbaren Todesursachen waren. Bei vielen der Wildtierskelette finden sich Spuren, die man bei Tieren aus der Wildbahn kaum kennt, aber bei Tieren aus Zoos, Menagerien oder Zirkussen. Ursachen sind inadäquate, zumindest suboptimale Haltungsbedingungen - zu wenig Platz, unnatürliche Gruppenbildung, mangelhaftes Futter und fehlende Rückzugs- und Fluchtmöglichkeiten.<p>
Imaginärer Rundgang
<p>Lassen Sie sich mitnehmen, zurück in eine Zeit, in der Stillfried kein kleiner Ort ist, sondern ein bedeutendes Zentrum für die Region. Wir spazieren vorbei an Gattern, in denen Rotwild gehalten wird; die Zäune sind an die zwei Meter hoch, um ein Überspringen zu verhindern. In einem Gatter sehen wir Hirsche, in einem anderen Rehe.<p>Hasen finden wir in kleinen Ställen, ähnlich heutigen Hasenställen. Die Wildschweine grunzen und wühlen den Boden auf. Ihre Umzäunung reicht bis zu zwei Meter tief in den Boden, damit sie nicht entkommen können. Die Wölfe heulen aus ihren Gruben, in denen sie zumindest ab und zu gehalten werden, die nur 11 m² Bodenfläche haben. Den Füchsen geht es nicht viel besser, auch sie sitzen in Gruben.<p>Vor allem die Schädel der Tiere erzählen nach über 2000 Jahren noch von der Haltung unter ungeeigneten Bedingungen. Eine Folge des Haltungsstresses, der sich vorrangig auf die Fortpflanzung und Fruchtbarkeit sowie das Gehirn auswirkt, ist ein verringertes Gehirnvolumen. In Gefangenschaft vermehren sich nur Tiere, denen diese Haltung nichts ausmacht, anders gesagt: je dümmer das Tier ist, desto eher vermehrt es sich. Bei den Nachzuchten kommt es dann zu einem geringeren Gehirnvolumen, das sich negativ auf die Sensibilität auswirkt.<p>Die Nachzuchttiere sind stressresistenter und vermehren sich infolgedessen besser. Das führt jedoch zum Zooeffekt: Mangelerscheinungen, Entwicklungsstörungen, Krankheiten, Verhaltensstörungen, Degenerationserscheinungen, Unfruchtbarkeit und hoher Jungtierverlust.<p>Eine weitere Folge der Gefangenschaft ist, dass sich die Schädel der Tiere verkrümmen, wie es bei einer trächtigen Hirschkuh nachgewiesen wurde, die ihre Deformation an das ungeborene Junge weitervererbt hätte. Der Bewegungsmangel der Tiere zeichnete sich ebenfalls ab. Die Hasen hatten krankhaft veränderte Gelenke, genauso die Wölfe und Füchse. Sie konnten in den Gruben nur im Kreis oder hin und her laufen.<p>Diese Tiere wurden offenbar nicht für die "Jagd" gehalten oder als einfach zu bekommendes Wildbret, da die Tiere unter anderem an Altersschwäche starben und jede nachweisbare Verletzung Heilungsmerkmale zeigt. Bei einer Wölfin wurde ein doppelter Beinbruch mit Knochenentzündung geschient, da der Knochen sonst nie in der vorgefundenen Form wieder verheilt wäre, bzw. die Wölfin diese Verletzung vielleicht gar nicht überlebt hätte.<p>Wer seine Tiere so fürsorglich pflegt, fügt ihnen absichtlich keine Verletzung zu. Aus diesem Grund ist die Verletzung einer Hirschkuh sehr rätselhaft. Die Wucht eines Schlages in den Lendenwirbelbereich drückte das Tier sicher zu Boden, brach ihm vier Dornfortsätze und verursachte querverlaufende Brüche in den Neuralbögen Richtung Rückenmark. Ein Unfall bei der Paarung, ein Kampf bedingt durch schlechte Haltungskonditionen oder ein Angriff durch ein Raubtier scheiden als Ursache aus. Es fiel vermutlich ein dicker Ast oder der Steher eines Unterstandes während eines Unwetters dem Tier in den Rücken.<p>Trotz der schweren Verletzung wurde versucht, das Tier gesundzupflegen, wie die begonnene Heilung der Wirbel zeigt.<p>Der sogenannte "Ausfall" von Tieren ist heute noch Alltag in Zoos, und heute wie damals werden die gestorbenen Tiere an die Fleischfresser verfüttert. Wie in der Stunde seines Todes lag ein Wolf mit seinem Futter, einem Hirsch, in seiner Grube. Anhand der gefundenen Bissmarken konnte festgestellt werden, dass der Wolf den Hirsch noch angefressen hat, bevor er selbst an Altersschwäche starb. Dass der Hirsch dem Wolf nicht lebend zum Fraß vorgeworfen wurde, zeigen die Schliffspuren an den Wirbeln und die Rillen an den Sprossenenden. Viele der Tiere wurden trotz erheblicher Beeinträchtigungen alt und starben anscheinend eines natürlichen Todes.<p>
Offene Fragen
<p>Warum wurden diese Tiere gehalten und gepflegt? Könnte es der Versuch gewesen sein, sie zu domestizieren? Die Zähmung von Tieren erfolgt über genetische Kaskaden und nicht über Training, also Lernen. Nicht alle Tierarten sind zur Domestikation geeignet. Hirsche und Rehe zeigen ein starkes Territorialverhalten während der Brunft, das nicht wegselektiert werden kann, wie es beim Rentier funktioniert hat. Welche Aufgaben hatten die Stillfrieder Tiere zu erfüllen? Handelte es sich vielleicht um die Haltung von Lockwild für die Jagd?<p>Wie der Name schon sagt, lockt dieser tierische Jagdhelfer, vor allem während der Paarungszeit, seine Artgenossen in die Nähe des Jägers. Dieser konnte so das entsprechende Wild leichter erlegen. Allerdings ist es nicht nötig, sich deshalb im großen Stil Wildtiere zu halten und zu züchten, wie das in Stillfried der Fall war. Und warum wurden Wölfe und Füchse gehalten?<p>Der Aufwand für die Haltung dieser Tiere war enorm. Ein Wolf frisst im Jahr bis zu sechs Ochsen. Zur Haltung von zehn Hirschen sind etwa zehn bis 12 Tonnen Trockenfutter jährlich notwendig. Die Futterreste mussten von den Betreuern dann noch entsorgt werden. Was bei Pflanzenfressern einfach war, wurde bei Fleischfressern zum Nervenkitzel. Eine Person kletterte in die Grube zum Wolf oder zum Fuchs, um die Fäkalien und die Futterreste einzusammeln. Aus der eigenartigen Abnutzung der Zähne der Fleischfresser kann angenommen werden, dass sie mittels eines Stockes mit Schlinge oder einem Holzgitter fixiert wurden, während in ihrer Grube gearbeitet wurde. So konnten Wölfe und Füchse auch zur Paarung zusammengebracht werden.<p>Warum nahmen die Menschen diese Arbeit der Wildtierhaltung auf sich, fern jedes ökonomischen Nutzens? Welchen Beweggrund hatten die maßgeblichen Personen in Stillfried, der Gemeinschaft diesen beträchtlichen Aufwand der Errichtung und Betreuung einer derartigen Menagerie aufzubürden? Eine Erklärung ist, dass die Tierhaltung aus religiösen Gründen geschah. Dass Tiere als Stellvertreter der Götter angesehen werden, kennen wir unter anderem aus dem alten Ägypten.<p>Die Katze, als ägyptische Gottheit, ist uns allen bekannt. Ein Motiv ist, dass die Tiere gehalten wurden, um den Göttern geopfert zu werden, oder die Menschen fühlten sich den Göttern durch die Anwesenheit der Tiere näher. Das Huhn wurde lange Zeit nur aus Prestigegründen und für den Kult gehalten, bevor es ökonomisch verwertet wurde. Hirsche wurden von Kaiser Aurelian 274 n. Chr. bei seinem Triumphzug eingespannt und danach Jupiter geopfert.<p>Inwiefern sich eine Gottheit über das Opfer von altersschwachen, missgebildeten, kranken Tieren, wie sie in Stillfried gefunden wurden, freut, sei dahingestellt. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Tiere aus denselben Gründen wie in der Neuzeit gehalten wurden, nämlich, um Aufmerksamkeit zu erregen und das Ansehen des Besitzers zu mehren.<p>Herrschaftliche Menagerien sind seit dem Mittelalter belegt. Ab dem 15. Jahrhundert ist die Haltung heimischen Wildes als Wildbretvorrat im Wiener Stadtgraben, ab 1513 die Haltung exotischer Wildtiere, auch Löwen, im Bereich der Hofburg und ab 1542 im Burggraben belegt. Der Tiergarten Schönbrunn wurde 1752 gegründet, die barocken Wolfskäfige hatten die Dimension der Stillfrieder Gruben.<p>Es kommt immer wieder vor, dass historische Wildtierskelette in einem Stück gefunden werden, so zum Beispiel in Langenzersdorf bei Wien eine Hirschbestattung. Der alte Hirsch hatte eine schlecht ausgeheilte Wirbelfraktur und eine Knochenwucherung am Brustbein, infolgedessen eine Gefangenschaftshaltung angenommen wurde. Eine so intensive Wildtierhaltung wie in Stillfried bleibt in Europa aber einzigartig.<p>
Keine Schlachtspuren
<p>Bei keinem der Tiere ist eine sichere Todesursache festgestellt worden. Ein Wolf dürfte an Altersschwäche verstorben sein, aber die anderen? Möglich ist, dass sie so getötet wurden, dass es keine Spuren am Knochen hinterlässt - nämlich durch Schächten. Oder sie sind verhungert, verdurstet, erfroren, vergiftet worden, an Krankheiten oder bei Unfällen gestorben. Fest steht, keines der gefundenen Tiere zeigt Schlachtspuren, und das, obwohl die Bevölkerung zeitweise Hunger litt. Die Zahl dieser Tiere ist jedoch viel zu gering, als dass man damit eine Zucht bzw. Vermehrung erfolgreich hätte durchführen können.<p>In Stillfried liegt noch viel verborgen; vielleicht lässt sich das Rätsel um die Gründung und den 200-jährigen Bestand des ältesten Tierparks Europas nie lösen. Eine ausführliche Darstellung der Forschungsergebnisse wird demnächst im Verlag der Akademie der Wissenschaften erscheinen.
Anna Bauer hat Ur- und Frühgeschichte studiert und verfasst archäologische und populärwissenschaftliche Artikel und Vorträge.