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Der Amazonas nähert sich dem Kipppunkt

Von Cathren Landsgesell

Wissen

Der Regenwald hat 2019 mehr CO2 abgegeben als aufgenommen. Eigentlich hätte es erst 2050 so weit sein sollen.


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Im Amazonas-Regenwald ist alles auf Wiederkehr ausgelegt. Ein Tropfen verdunstendes Wasser kehrt hier etwa sechsmal als Regen zum Ort seiner Entstehung zurück. Der Regenwald wandelt stetig Kohlenstoff und Sauerstoff um. Es ist eine dicht belebte und feuchte Welt mit der größten Biodiversität, die tropische Regenwälder auf der Erde zu bieten haben. In den vergangenen 50 Jahren ist dieser Regenwald geschrumpft, um 15 Prozent, gemessen über alle neun Länder, über die er sich erstreckt, aber allein in Brasilien um 20 Prozent.

Der Wald verliert seine Fähigkeit zur Regeneration. Das jüngste Indiz: In den zehn Jahren zwischen 2010 und 2019 gab der Amazonas-Regenwald mehr CO2 ab, als er aufnahm; 2,7 Milliarden Tonnen. Verliert die Menschheit gerade einen der entscheidenden Kohlenstoffspeicher? Erreicht der Regenwald einen Kipppunkt, der auch andere für das Klima der Erde zentrale Systeme ins Trudeln bringt? "Das wissen wir nicht", sagt Stephen Sitch, Klimaforscher an der Universität Exeter und einer der Autoren der Studie, die diesen Befund für den brasilianischen Teil des Amazonasbeckens zu Tage gebracht hat. "Aber wir wissen, dass die Situation viel ernster ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten."

Teufelskreise

Sitch erforscht die Klimasysteme der Erde seit mehr als zwanzig Jahren. Er ist spezialisiert auf die Landbedeckung der Erde durch Pflanzen und arbeitet mit Satellitendaten, die die Erdoberfläche beständig scannen. Die gewaltige Schicht Biomasse speichert bis zu dreißig Prozent des CO2, das weltweit emittiert wird. Es ist ein Forschungsobjekt, das vor seinen Augen schrumpft. Allein 2019 verlor der Amazonas-Regenwald 3,9 Millionen Hektar durch Abholzung, in den Jahren zuvor waren es "nur" rund eine Million Hektar gewesen.

Sitchs Besorgnis entstammt vor allem einem bislang in der Klimaforschung unterbelichteten Detail: Degradation. "Wir meinen damit, dass sich die Qualität des Ökosystems verändert. Anstelle alter Bäume finden wir in degradierten Zonen zum Beispiel Büsche und andere Pflanzen, die weniger gut CO2 aufnehmen können", so Sitch. Degradation kann im Gefolge von Entwaldung auftreten: Wenn ein Acker entsteht, wo Wald war, betrifft das nicht nur die gerodete Fläche, sondern auch die Randzonen des verbliebenen Waldes. "Es ist dort zum Beispiel trockener und heißer." Diese Degradation hat größere Ausmaße als die Entwaldung selbst: Degradation ist für 73 Prozent des Biomasseverlustes verantwortlich, der Verlust durch Rodung trägt "nur" 27 Prozent bei. "Wir müssen dem Verlust durch Degradation viel mehr Aufmerksamkeit schenken", sagt Sitch. Wie schwer dieser schleichende Verlust wird, macht ein Detail der Studie deutlich: 2015 verlor das Amazonas-Becken viel mehr Biomasse als im bisherigen Rekordjahr des Baumfällens 2019. 2015 war ein El-Nino-Jahr und damit besonders heiß. Es kam außerdem eine Dürre mit wenig Niederschlag hinzu. "Und, bumm, hat man noch mehr Feuer und noch mehr Waldverlust", so Sitch.

Degradation klinkt sich somit in einen diesmal bedrohlichen Kreislauf ein und beschleunigt ihn: Weniger Bäume bedeuten weniger Niederschlag und erneut weniger Bäume, viele offene Stellen, mehr Hitzeinseln, mehr Dürren, mehr Feuer, und wieder mehr Degradation. Die alten Bäume, die viel CO2 speichern können, verschwinden. Der Kreislauf der Erneuerung bricht zusammen. Allein durch verminderten Niederschlag sind 40 Prozent des Amazonas-Regenwaldes schon so weit, dass sie auch in savannenähnliche Zustände kippen könnten, wie eine andere Studie im Oktober 2020 gezeigt hat. Die Regenwälder verlören ihre Resilienz, heißt es da. Die Jahresdurchschnittstemperatur in der Region ist zwischen 1912 und 2010 um ein bis 1,5 Grad gestiegen.

Vor etwas mehr 20 Jahren, 2000, erschien eine Studie von Peter Cox und anderen Klimaforschern, die ein Umkippen des Amazon-Regenwaldes von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlenstoffquelle für das Jahr 2050 annahm, sollte sich an den CO2-Emissionen nichts ändern. Ab einem Verlust von 20 Prozent des Regenwaldes sei dieser Kipppunkt erreicht, so die Prognose.

"Wir erreichen diesen Kippunkt wohl früher als angenommen", sagt Sitch. Ein großes Risiko ist, dass der beschriebene Teufelskreis durch die Degradierung beschleunigt wird, was Cox nicht bedenken konnte. Der Studie aus dem Jahr 2000 standen auch nicht die Computerkapazitäten und die detaillieren Daten zur Verfügung, wie die Klimaforschung sie heute hat. Sitch: "Wir sind dem Kipppunkt vermutlich schon viel zu nahe gerückt."