Am Sonntag nahm der Flüchtlingsstrom aus Ungarn nach Österreich ab. Ein Lokalaugenschein der hilfsbereiten Grenz-Gemeinde Nickelsdorf im Burgenland.
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Burgenland/Nickelsdorf. Ein kleiner Bub aus Syrien tritt einen gelben Fußball vor sich her. Kurze Zeit später bildet sich einem Menschentraube um ihn. Nun wird im Kreis hin und her gespielt. Der Kleine lacht quietschfidel. Währenddessen rasieren sich im Hintergrund zwei Jugendliche und schauen sich dabei in einen Rückspiegel eines Geländewagens. Andere probieren Schuhe an und arbeiten sich durch Berge an Kleidung. Ein Menschenkreis sitzt um eine Steckerleiste und versucht mit ihren Smartphones Kontakt zu den jeweiligen Familien herzustellen.
Es ist Sonntagvormittag im burgenländischen Nickelsdorf, unweit von der Grenze zu Ungarn. Die 1500-Seelen-Gemeinde avancierte in den letzten Tagen zu einem Ort der Hilfsbereitschaft. Seit Tagen verteilen hier Zivilpersonen an vier Standorten kistenweise Kleidung, Hygieneartikel, Lebensmittel, warme Getränke und Decken an die aus Ungarn anreisenden Flüchtlinge. Ständig kommen Fahrzeuge aus allen Bundesländern mit weiteren Spenden. "Wir sind gestern und heute aus Wien gekommen, um zu helfen. Als ich hörte, dass Menschen zu Fuß im strömenden Regen hierher unterwegs sind, musste ich einfach handeln", erzählt Anna Relle-Steiger, während sie versucht, Ordnung in einen großen Kleidungsberg zu bringen. An einigen Gartentüren haben Nickelsdorfer in der Straße Richtung Bahnhof Wasser und Lebensmittel auf kleinen Tischen bereitgestellt. Vom Roten Kreuz werden die Schutzsuchenden zudem medizinisch betreut.
Tobias Mindler, Pressesprecher des Roten Kreuz Burgenland, freut sich über die Hilfsbereitschaft in Nickelsdorf. "Ich bin froh, mit diesen Menschen zusammenarbeiten zu können", sagt Mindler. "An Sachspenden gehen wir im Moment sogar über, wir haben derzeit ausreichend für die noch ankommenden Flüchtlinge." Mindler weist aber darauf hin, dass vor allem unter der Woche wieder helfende Hände und Spenden in koordiniertem Rahmen gebraucht werden. Melden kann man sich direkt beim Roten Kreuz (fluechtlingsbetreuung.neusiedl@b.roteskreuz.at).
Für Polizeisprecher Helmut Marban war am Sonntag nicht absehbar, wie viele Flüchtlinge ankommen werden. Seit Samstag haben mehr als 12.000 Flüchtlinge die Grenze über Nickelsdorf passiert. In der Nacht mussten durch den großen Andrang dennoch einige Flüchtlinge in Zelten oder Sammellager schlafen, die mittlerweile aber wieder leer sind. "Das hatte mit dem großen Andrang zu tun und weil in der Nacht keine Züge mehr gefahren sind", sagt Marban. So viele dürften es am Sonntag aber nicht mehr sein. Die Budapester Ostbahnhof war nahezu leer. "Die Detailinformationen der ungarischen Kollegen könnten besser sein. Wir sind derzeit auf Gerüchte und die Schilderungen der Flüchtlinge angewiesen", sagt Marban. Auch Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil kritisierte wenig später bei einer Pressekonferenz die Informationssituation mit den ungarischen Kollegen: "Wir bekommen immer noch keine verlässlichen Informationen". Man gehe aber nicht mehr davon aus, dass die Asylsuchenden in Ungarn versorgt werden, denn die Intention sei die Asylwerber ehest möglich über die Grenze nach Österreich zu bringen. Gerry Foitik, Bundesrettungskommandant des Österreichischen Roten Kreuzes merkte dazu noch an, dass sich laut ungarischer Behörden 5000 bis 7000 Menschen an der ungarisch-serbischen Grenze befinden, die sie im Laufe des Tages öffnen werden. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis der neue Schwung an der österreichischen Grenze ankomme.
Foitik bedankte für ihre Hilfsbereitschaft, der freiwilligen Helfer und bat gleichzeitig darum, das Engagement für die nächsten Tage aufrecht zu halten: "Ich würde mir wünschen, dass die Welle der Solidarität anhalten kann aber nicht muss", hofft er auf eine Besserung der Situation.
"Es wurde immer geholfen"
Für Marban hat die beeindruckende Hilfsbereitschaft in Nickelsdorf aber nichts mit der Tragödie der 71 Verstorbenen in einem Schlepperwagen zu tun. "Der Ort ist Ausnahmesituationen gewohnt, die Hilfsbereitschaft war immer da." Ob die Menschen nun aus Ungarn, dem ehemaligen Jugoslawien oder der DDR kamen, "es wurde immer geholfen, so auch jetzt." Rot-Kreuz-Sprecher Mindler sieht in der Tragödie den Knackpunkt: "Seither werden auch die Hasspostings im Netz weniger."
Fragt man die Heimatvertriebenen in Nickelsdorf nach ihrem Befinden, sagen sie, sie seien froh, Ungarn hinter sich gelassen zu haben. Ob fahrend oder zu Fuß. Hauptsache weg. Die Versorgung wäre schlecht im Nachbarland Österreichs. Doch die kleine Ortschaft Nickelsdorf ist für sie alle nur eine Zwischenstation. So gut wie alle hier wollen weiter nach Deutschland. Nur wenige bleiben in Österreich. Auf den Wiener Bahnhöfen waren am Samstag 8500 Schutzsuchende eingetroffen, 7500 von ihnen reisen weiter Richtung Deutschland. Knapp 20 der tausenden Flüchtlinge auf den Wiener Bahnhöfen beantragten in Österreich Asyl. In Nickelsdorf waren es bis Sonntagfrüh 65.
Kommen Flüchtlinge in der kleinen burgenländischen Gemeinde an, werden sie erstversorgt. Sie bekommen zu Essen, Wasser, Tee und Kaffee sowie gegebenenfalls neues Gewand und Schuhe. Mit einem der nächsten Sonderzüge der ÖBB geht es zum Wiener Westbahnhof oder nach Salzburg und dann meist weiter nach Deutschland. Was die Menschen dort hintreibt? Viele sprechen davon, dass die dort in Zukunft besser behandelt würden. Sie erträumen sich ein anderes, sicheres Leben.
Für den kleinen Bub und seine Fußballgruppe geht es auch nach Deutschland. Kurz bevor ihr Zug kommt, fährt ein Bus im Bahnhof ein. Den Ball spielen sie den Kindern zu, die aus diesem aussteigen. Und wieder wird im Kreis gespielt. Wohl bis deren Zug kommt.
In Wien ist Sonntagvormittag ein Hilfskonvoi Richtung Ungarn losgefahren, mit dem Ziel, Flüchtlinge über die Grenze nach Österreich zu bringen. Am Nachmittag waren die Fahrzeuge noch in Richtung Györ unterwegs, dort befindet sich ein Sammellager. Dabei geht die Privatinitiative ein Risiko ein: Nach ungarischem Gesetz begeht jeder, der einen Flüchtling hilft nach Österreich zu gelangen, eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden kann. Die österreichische Rechtslage sieht anders aus: Wer Flüchtlinge ohne Gewinnabsicht mitnimmt, das heißt ohne Geld zu verlangen, begeht keine gerichtliche Straftat, sondern eine Verwaltungsübertretung.