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"Der Angriff war sehr riskant"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Die Dimension der ukrainischen Offensive im Oblast Charkiw hat Freund und Feind überrascht. Im Interview erläutert Brigadier Philipp Eder vom Bundesheer Hintergründe und Folgen der vernichtenden russischen Niederlage.


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"Wiener Zeitung": Die ukrainischen Truppen haben im Oblast Charkiw über das Wochenende mehrere tausend Quadratkilometer erobert und damit den Fortschritt, den die Russen in sechs Monate erzielt haben, in wenigen Tagen zunichtegemacht. Wie ist ein derart schneller und umfassender Vorstoß möglich gewesen?

Philipp Eder: Es hat hier ganz offensichtlich mehrere Faktoren gegeben. Das eine ist, dass die Ukrainer offenbar über extrem gute Informationen und Aufklärungsergebnisse verfügt haben. So dürfte die Armeeführung sehr genau darüber Bescheid gewusst haben, wie die Russen auf die vor einiger Zeit begonnene Offensive in Cherson reagiert haben; also welche Truppen sie vom Norden in den Südwesten verlegt haben und an welchen Stellen die Front in der Folge ausgedünnt war. Ein zweiter Faktor war sicher der Überraschungseffekt - mit Ausnahme eines einzelnen Analysten, der irgendwann im April einen solchen Vorstoß als Möglichkeit genannt hat, kenne ich jetzt niemand, der das vorausgesagt hat. Gleichzeitig ist es der Ukraine extrem gut gelungen, das geheim zu halten. Offenbar haben das nur wenige unmittelbar Betroffene gewusst, ich glaube auch nicht, dass viele internationale Partner informiert waren. Eine entscheidende Rolle haben zudem die Schwächen der Russen gespielt - also die zu geringe Mannstärke und die fehlende Luftwaffe. Denn eigentlich wäre ja ein derartiger Angriff in Divisionsstärke ohne eigene Luftüberlegenheit ein Fressen für die gegnerische Luftwaffe. Aber offensichtlich haben die Ukrainer - auch durch westliche Waffenlieferungen - die Fähigkeit, die russische Luftwaffe in gewissen Räumen zu neutralisieren. Zu all dem kommt natürlich noch das psychologische Moment, wenn die Ersten fliehen - das ist dann mitunter wie ein Dammbruch.

Wie gut vorbereitet war die russische Verteidigung Ihrer Einschätzung nach? Vieles, was man bisher gesehen hat, entspricht nicht unbedingt dem Lehrbuch. Offenbar gab es weder gestaffelte Verteidigungslinien noch Reservekräfte, die einem Durchbruch entgegenwirken hätten können.

Das russische Schwergewicht ist in Luhansk und Donezk, der Auftrag von Präsident Wladimir Putin lautet ja, diese beiden Provinzen einzunehmen. Damit hat man in Kauf genommen, an anderen Fronten weniger gut ausgebildete und schlechter ausgerüstete Truppen stehen zu haben. Überrascht hat mich aber auf alle Fälle, dass es überhaupt keine russische Gegenreaktion gab.

Es gibt zahlreiche Fotos von zurückgelassenen Panzern, Flugabwehrsystemen und Geschützen. Lässt sich abschätzen, wie viel Material die Russen hier verloren haben?

Von außen ist das nur sehr schwer machbar. Aber ich würde nicht ausschließen, dass das hunderte Fahrzeuge sind, die hier zurückgelassen wurden. Den kursierenden Fotos und Videos nach zu schließen, war das alles andere als ein geordneter Rückzug zur Frontbegradigung. Das hilft natürlich den Ukrainer, denn vor allem die Munition können sie weiterverwenden.

Seit Russland sich nach der Niederlage vor Kiew auf den Donbass konzentriert hat, war immer wieder von der Materialüberlegenheit der Russen, vor allem bei Artilleriegeschützen, die Rede. Spielt das nun keine Rolle mehr?

Das haben die Ukrainer sehr gut durch die amerikanische Raketenartillerie und M777-Haubitzen ausgleichen können. Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj hat ja vor kurzem im einem viel beachteten Artikel die Artillerie als Zentrum der russischen Kraftentfaltung bezeichnet, das es zu neutralisieren gilt. Obwohl den Zahlen nach nur wenig geliefert wurden, konnte dieses Ziel mit Hilfe der westlichen Waffensysteme ganz gut erreicht werden.

Kann die Ukraine die nun zurückeroberten Gebiete nachhaltig halten?

Das kann man derzeit nicht sagen. Der aktuelle Angriff war meiner Ansicht nach sehr riskant, weil auch die ukrainischen Streitkräfte nicht aus dem Vollen schöpfen. Es gibt auch hier nicht unendlich Soldaten, Fahrzeuge und Munition. Man ist zwar jetzt sicher versucht, das Momentum auszunützen, aber da die Ukrainer wohl nicht nochmals massiv nachstoßen können, werden sie jetzt wohl auch danach trachten, das gewonnene Gelände so gut wie möglich zu verteidigen. Wenn die Russen nicht schon wirklich komplett am Ende sind, wird es wahrscheinlich Gegenangriffe geben.

Was bedeutet die jüngsten ukrainischen Erfolge für den weiteren Kriegsverlauf im Donbass? Von Isjum im Norden werden die Russen ja jetzt nicht mehr wie ursprünglich geplant in Richtung Süden nach Donezk vorstoßen können.

Der eigentliche Zweck der ukrainischen Offensive, wie ich ihn verstanden habe, war nördlich von Isjum diesen Eisenbahnknotenpunkt in Besitz zu nehmen, um den Nachschub in den Donbass zu unterbinden. Damit werden auch die eigenen Verteidiger dort entlastet. Über alles, was darüber hinaus geht - etwa einen weiterer Vorstoß in den Donbass -, werden derzeit gerade viele ukrainische Generäle brüten. Das Ganze ist natürlich eine Hochrisikoangelegenheit, alles, was diese Woche passiert ist, ist gut gegangen, aber es hätte auch komplett danebengehen können.

In Cherson gibt es seit Ende August ebenfalls eine ukrainische Offensive. Was ist für diese Region, die im Süden an die Krim grenzt, zu erwarten?

Es gibt hier zwei Denkschulen: Die eine ist, dass die Cherson-Offensive und die zahlreichen Ankündigungen davor eine reine Ablenkung von dem waren, was die Ukraine eigentlich im Osten vorhatte. Damit würden die ukrainischen Kräfte nun weiter in Cherson andrücken, um zu probieren, was geht. Aber sie würden kein hohes Risiko eingehen. Die andere Theorie ist, dass die russischen Streitkräfte am Westufer des Dnjepr durch die Beschädigung der Brücken und die unterbrochene Logistik durchaus gefährdet sind. Heute war etwa zu lesen, dass sich die Russen ein paar Kilometer zurückgezogen haben, um nicht den Schirm ihrer eigenen Artillerie zu verlieren. In jedem Fall gilt aber, dass es für die Russen mit dem Bedrohungsszenario Cherson schwieriger wird, ihr Schwergewicht auf den Donbass zu setzen. Die drei Frontabschnitte muss man nun wie kommunizierende Gefäße sehen. Wenn die Russen von einem Ort etwas abziehen, werden die Ukrainer das sofort ausnutzen.

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