Bundeskanzlerin Bierlein über ihre Erfahrungen in der Politik und das Übel ständiger Akten-Leaks.
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Brigitte Bierlein (70) ist keine richtige Politikerin. Damit ist sie in der derzeitigen heimischen Politik nicht allein, aber im Unterschied zu dieser hat die Bundeskanzlerin gar nicht den Anspruch oder auch nur den Willen, eine richtige Politikerin zu sein.
Am Freitag war die Regierungschefin auf Besuch bei der "Wiener Zeitung"; als erste Bundeskanzlerin war das eine ehrenvolle Premiere im 317. Jahr unseres Bestehens. Im Interview ging es dann um ihre Erfahrungen als untypische Politikerin mit der typischen Politik, über die Folgen von "Ibiza" und die Notwendigkeit, etwas gegen die grassierende Angewohnheit zu unternehmen, Verschlussakten zu Lasten der Rechte von Beschuldigten zu veröffentlichen.
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"Wiener Zeitung": Frau Bundeskanzlerin, Sie sind jetzt etwas mehr als sechs Monate Bundeskanzlerin der Republik. Was haben Sie in dieser Zeit über Politik erfahren, was Sie nicht schon vorher gewusst haben?Brigitte Bierlein: Auch wenn diese Regierung entsprechend ihres Amtsverständnisses eine außergewöhnliche ist, so stellt sich Politik aus der Innensicht doch erheblich anders dar, als man es von der Außensicht vermuten würde. Das Arbeiten mit den Ministerinnen und Ministern, der Blick auf die Europäische Union: Wenn man mit den handelnden Menschen mit am Tisch sitzt und diskutiert, ist das schon eine besondere Erfahrung, die man normalerweise nicht machen kann.
Gab es ein besonderes Erlebnis, positiv oder negativ?
Die EU-Gipfeltreffen zeichnen sich doch durch sehr, sehr lange und intensive Sitzungen aus; in einem Fall dauerte ein Treffen 19 Stunden; das war überraschend für mich, darauf war ich nicht vorbereitet. Die vielen direkten Gespräche, etwa mit dem damaligen Kommissionspräsidenten Juncker, mit Angela Merkel und jetzt zuletzt mit Boris Johnson, habe ich dagegen als sehr positiv erlebt.
Und was erlebten Sie als negativ?
Neben der langen Sitzungsdauer war das sicher die Blockade von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien. Ich und viele andere haben das als dringende Notwendigkeit empfunden, doch das ist uns leider nicht gelungen. Das bedauere ich sehr.
Sie wollten nie Politikerin sein und betonen auch jetzt stets, dass Sie keine normale Politikerin sind. Welche Eigenschaften sollte denn ein Politiker haben, die Sie vielleicht nicht haben?
Auf jeden Fall Team- und Dialogfähigkeit, wobei ich schon glaube, dass ich über beides verfüge. Ein Politiker muss aber Parteipolitiker sein, er oder sie muss Wahlkämpfe führen; das liegt mir nicht. Umso mehr freue ich mich darüber, dass ich am Ende meines Berufslebens in diesem besonderen Amt noch einmal der Republik in einer außergewöhnlichen Situation dienen darf. Genau das ist ja auch das Amtsverständnis dieser Regierung.
Hat sich der Blick des Auslands auf Österreich durch "Ibiza" verändert?
Auch in anderen Staaten passieren immer wieder bemerkenswerte oder sogar beunruhigende Dinge, treten Regierungen zurück, müssen Neuwahlen abgehalten werden. Österreich gilt international als gefestigter Rechtsstaat mit starken demokratischen Werten. Das ist auch tatsächlich der Fall, und genau deshalb gab es ein gewisses Erstaunen, dass diese Ereignisse so möglich waren.
Sie haben Kritik an Beschlüssen des Nationalrats geübt, etwa zu Pensionen, Glyphosat und Saudi-Zentrum. Wie verlief die Kommunikation mit den Parteien im Vorfeld?
Es gibt laufende Gespräche mit den Parteispitzen und Klubobleuten, nur über diese Entscheidungen gab es keine Vorabinformationen. Ich war erstaunt, wie die Parteien bei den einzelnen Anträgen gestimmt haben. Aber wir haben, darauf lege ich Wert, alle rechtmäßigen Beschlüsse des Parlaments umgesetzt oder auf den Weg zur Umsetzung gebracht. Aber es muss allen klar sein, dass damit die nächste Regierung inhaltlich präjudiziert und mit zusätzlichen Kosten konfrontiert wird.
Fast täglich werden Akten mit Ermittlungsergebnissen zur Causa "Ibiza" öffentlich. Wer dafür verantwortlich ist, lässt sich schwer sagen, da der Kreis der Personen mit Akteneinsicht groß ist. Trotzdem werden auf diese Weise die Privatrechte der Beschuldigten verletzt. Soll und wenn ja was kann dagegen unternommen werden?
Ich sehe das mit großer Sorge, immerhin handelt es sich dabei um einen Verschlussakt, der - wie der Name sagt - nur einem kleinen Kreis zugänglich sein sollte. Und trotzdem gelangen die Informationen oft sehr schnell, mitunter noch am gleichen Tag, an Medien. Justizminister Clemens Jabloner hat deshalb vorgeschlagen, solche Akten durch Kennzeichnung nachverfolgen zu können. Aber das wird in unserer digitalen Zeit wohl auch keine vollkommene Sicherheit bringen. Es ist daher eher der Anstand aller Beteiligten gefragt, immerhin handelt es sich bei der Weitergabe ja auch um einen Straftatbestand.
Es gäbe die rechtsstaatlich heikle Möglichkeit eines Veröffentlichungsverbots solcher Verschlussakten. Wäre das für Sie ein vertretbarer Weg?
Meines Wissens kennt Deutschland eine vergleichbare Regelung. Aber diese Debatte möchte ich den Parteien im Parlament überlassen. Man sollte sich wohl etwas überlegen, denn es nimmt in einer erschreckenden Weise überhand. Natürlich gibt es hier ein großes öffentliches Interesse, aber es haben eben auch Beschuldigte Rechte auf Privatleben und Datenschutz.
Der Verfassungsgerichtshof hat zahlreiche zentrale Gesetze von Türkis-Blau aufgehoben. Ist das ein Zeichen für die mangelnde legistische Qualität dieser Regierung oder doch eher ein Beleg für die funktionierende Gewaltenteilung?
Es ist für Legisten und Juristen nicht immer einfach, die Balance zwischen Verfassungsgemäßem und Verfassungswidrigem auszuloten. Insbesondere in den genannten sensiblen Bereichen. Im Vorhinein kann man sich nie sicher sein, wie das Höchstgericht in schwierigen Abwägungsfragen entscheidet, es sind in der Regel ja auch Mehrheitsvoten.
Letzte Frage: Wie werden Sie Weihnachten und die Feiertage verbringen?
Wie immer zu Hause in Wien. Ich bin da sehr traditionell, wir feiern mit Familie und Freunden unter dem Christbaum.•