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Der Anti-Erdogan als großer Hoffnungsträger

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

In der Türkei scheint Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan erstmals seit vielen Jahren nicht mehr unantastbar. Bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag könnte CHP-Kandidat Muharrem Ince zumindest einen zweiten Durchgang erzwingen.


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Istanbul. Der Hoffnungsträger kommt ohne Jackett und im Hemd mit aufgerollten Ärmeln, ein Abzeichen mit der türkischen Fahne im Knopfloch. Hunderte Menschen schwenken türkische Fahnen und die Flaggen der sozialdemokratischen CHP. Der Platz im Istanbuler Stadtteil Esenyurt ist so voll, dass kaum Platz bleibt für die Wasserverkäufer. Leichtfüßig betritt der Kandidat die Bühne, winkt der Menge zu, die in laute Rufe verfällt: "Ince! Ince!" Ihre Gesichter glühen nicht von der Sommersonne - sie glühen vor Begeisterung. Ihr Hochgefühl gilt dem Star des Wahlkampfes: Muharrem Ince, 54 Jahre alt, Präsidentschaftskandidat der CHP. Dem Mann, der angetreten ist, um den Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdogan aus dem Prachtpalast in Ankara zu verjagen.

Am Sonntag sind rund 59 Millionen Einwohner der Türkei aufgerufen, ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten zu wählen. Um sie zu erreichen, absolviert Muharrem Ince ein mörderisches Programm, 102 Auftritte in 48 Tagen, von Diyarbakir im Südosten nach Edirne im Westen des Landes. Er ist ein Kämpfer und exzellenter Redner, der alle Tonarten beherrscht: Witz, Polemik, Sarkasmus, Sentiment. Mit ihm verspürt die Opposition zum ersten Mal überhaupt Rückenwind - und zwingt Erdogan, der die türkische Politik seit 16 Jahren dominiert, in den schwersten Wahlkampf seines Lebens.

Dabei steht der Staatschef eigentlich auf dem Zenit seiner Macht. Der 64-Jährige hat die Opposition marginalisiert, das Militär entmachtet und die Medien weitgehend unter seine Kontrolle gebracht. Mit der Wahl am 24. Juni tritt das Präsidialsystem in Kraft, das ihm eine Machtfülle verleiht, wie sie zuvor nur der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk besaß. Doch obwohl in den Städten des Landes fast nur Erdogan-Plakate und Flaggen seiner AKP zu sehen sind und der Staatsapparat sowie fast alle Medien ihren Wahlkampf stützen, sind die AKP-Mitglieder keinesfalls entspannt. "Früher waren sie in Wahlkämpfen optimistisch", sagt Gareth Jenkins, in Istanbul lebender Türkei-Experte vom Schwedischen Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik. "Jetzt sind sie nervös und voller Verschwörungstheorien."

Geeinte Opposition

Die Nervosität hat zwei wesentliche Gründe. Erstmals seit Erdogans Machtübernahme ist es der notorisch zerstrittenen Opposition von Mitte-links bis Mitte-rechts gelungen, sich zu vereinen. Vier Oppositionsparteien haben eine Wahlallianz gebildet und könnten zusammen mit der prokurdischen HDP die Parlamentsmehrheit erobern, selbst wenn Erdogan wieder zum Präsidenten gewählt werden sollte. Niemand hätte das für möglich gehalten, am allerwenigsten wohl Erdogan selbst.

Der zweite Grund ist Muharrem Ince. Nie hätte Erdogan damit gerechnet, dass ihm ausgerechnet ein ehemaliger Physiklehrer gefährlich werden könnte. Aber Muharrem Ince ist es gelungen, den Mythos von Erdogans Unbesiegbarkeit zu demontieren. In Umfragen robbt er sich schier unaufhaltsam an den Titelverteidiger heran, der immer noch der populärste Politiker der Türkei ist. Während die Werte Erdogans inzwischen auf rund 39 bis 43 Prozent gefallen sind, hat Ince massiv gewonnen und steht bei etwa 30 bis 35 Prozent - Tendenz weiter steigend. Die Demoskopen sind sich einig, dass die Opposition Erdogan in eine Stichwahl am 8. Juli zwingen und Ince sein Gegner sein wird.

Der Herausforderer, Sohn eines Kraftfahrers aus der Provinz Yalova 60 Kilometer südlich von Istanbul, schlägt den Dauerherrscher mit dessen eigenen Waffen. Er kann aggressiv rhetorisch zuspitzen, hat den politischen Killerinstinkt, spricht die Sprache der kleinen Leute. Erdogans übliche Angriffe auf "säkulare, ungläubige" CHP-Politiker verfangen bei ihm nicht, weil Ince freitags in die Moschee geht und seine Mutter wie Schwester das muslimische Kopftuch tragen. Als die AKP Fotos publiziert, die ihn mit einem Bier während des Fastenmonats Ramadan zeigen, antwortet Ince auf Twitter: "Stimmt, ich trinke Bier, aber vorher habe ich gefastet."

"Warum sind Sie reich?"

Vor allem aber profitiert Ince von der tiefen Sehnsucht auch vieler AKP-Anhänger nach Normalität und gesellschaftlicher Versöhnung. Er will Erdogans Präsidialdiktatur verhindern und zurück zur parlamentarischen Demokratie, will die Medienzensur beenden, die Justiz aus den Fesseln der Regierung lösen, Kredite statt an große Holdings an Händler und Bauern vergeben. "Seit 16 Jahren polarisiert und spaltet Erdogan die Gesellschaft. Ich werde genau das Gegenteil sein. Ich werde ein Präsident sein, der vereint", sagt er. Die Türkei habe genug von einem "erschöpften Mann, der unentwegt schreit und tobt", sagt er. Sie wolle einen "Jüngeren, Gelasseneren".

War Erdogan 2001 als Populist angetreten, der die anatolischen Massen begeisterte, indem er seine niedere Herkunft betonte und sich als Kämpfer gegen das verdorbene kemalistische Establishment inszenierte, spielt Ince nun auf exakt derselben Klaviatur - nur genau andersherum. "Mein Rivale lebt in einem Palast, er ist reich, sein Geschäft ist gut. Er trinkt weißen Tee, während ich den gleichen schwarzen Tee trinke wie ihr", ruft er. Dann stellt er dem Präsidenten eine wichtige Frage: "Wir haben lange Zeit das gleiche Gehalt bezogen. Wie kommt es, dass Sie so reich geworden sind, und ich bin so arm?" "Dieb Erdogan", skandiert die Menge.

"Erdogan und die AKP kriegen Ince einfach nicht zu fassen", meint Türkei-Experte Jenkins. Die Popularität des CHP-Kandidaten steigt mit jedem Auftritt auf den Plätzen oder im Fernsehen. Seine wichtigsten Waffen sind Offenheit, Witz und Polemik, die an den überbordenden Humor der Gezi-Proteste von 2013 gegen Erdogan erinnern. "Das ist kein Zufall", sagt der Architekt Cem Tüzün aus Istanbul, einer der wichtigsten Köpfe der Gezi-Bewegung und selbst CHP-Mitglied. "Bei Gezi trafen sich erstmals ganz normale Leute, um einen Park und einen Lebensstil zu verteidigen. Jetzt ist eine neue Stufe erreicht: Ganz einfache Leute aus allen Schichten attackieren die Diktatur. Ince verkörpert die logische Fortsetzung von Gezi."

Wie Gezi vereine die neue Bewegung die Opposition "von unten", sagt Tüzün. "Das gab es noch nie in der Türkei, und es ist nicht von oben verordnet." Der Aktivist kennt Ince aus der Parteiarbeit. "Er ist ein einfacher Mann, integer, nicht korrupt. Ein linker Kemalist, der keine Probleme hat mit Kurden und anderen Minderheiten. Ein Mann des Volkes. Niemand hätte ihm zugetraut, was er jetzt leistet. Aber es passiert, weil er es schafft, eine tiefe Verbindung zu den einfachen Leuten aufzubauen." Tüzün sagt, damit repräsentiere Ince, was im Türkischen als "dip dalgasi", "tiefe Bewegung", bezeichnet werde - ein historisches Momentum. "Gezi war eine solche Bewegung. Jetzt ist es der Wahlkampf. Die Wechselstimmung ist real."

Es war Muharrem Ince nicht in die Wiege gelegt, dass er der Mann sein könnte, der den "Sultan" womöglich vom Thron stößt. Er saß sechs Jahre im Parlament für die CHP, kandidierte zweimal vergeblich um die Parteiführung gegen den Langzeitvorsitzenden Kemal Kilicdaroglu. Sein politisches Talent blieb unentdeckt. Doch mit seiner dynamischen Kampagne erreicht Ince jetzt Wähler weit über das traditionelle Spektrum der CHP, die in den letzten Jahren nie über 25 Prozent der Stimmen kam. Er schafft es, die Linken, die Säkularen, die Kemalisten, aber auch die Nationalisten und Religiösen anzusprechen - und sogar die Kurden, die für die CHP verloren schienen, da die Partei ihre Unterdrückung jahrzehntelang gerechtfertigt hat.

Frieden statt Bomben

Im Kurdengebiet drehte Ince die Stimmung, indem er den inhaftierten HDP-Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas im Gefängnis besuchte. Während Erdogan ihre Städte zerbomben ließ und ihre Politiker ins Gefängnis warf, verspricht Ince den Kurden Frieden. "Lasst es uns klar sagen: Es gibt ein Kurden-Problem, und der Ort es zu lösen, ist nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Parlament", ruft der CHP-Kandidat bei einer Kundgebung in der Kurdenhochburg Diyarbakir. "Kurdische Bürger müssen respektiert werden." Praktisch alle Meinungsforscher prognostizieren einen Sieg der Opposition, falls die HDP über die Zehnprozenthürde kommt. Stimmen die Kurden in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl für Ince, könnte dies das Ende des Systems Erdogan bedeuten.

Der Präsident wirkt dagegen plötzlich müde, uninspiriert, ausgebrannt - und krank. Wenn er nicht auf seinen Teleprompter schaut, vergisst er bei Kundgebungen, wo er sich gerade befindet, oder behauptet, er habe Universitäten und Flughäfen gebaut, die es schon lange vor seiner Machtübernahme 2002 gab. Fotos halbleerer AKP-Kundgebungen kursieren auf Facebook und Twitter. Wenn Erdogan im Fernsehen spricht, sinken neuerdings die Quoten, während jeder TV-Auftritt Inces die Aufmerksamkeitskurve nach oben schnellen lässt. "Erdogan hat kein politisches Projekt mehr, das die Massen begeistert", meint Türkei-Forscher Jenkins.

Muharrem Ince aber hat Projekte, und er spricht die Sprache des Volkes. Er baut jede Rede auf den Alltagserfahrungen der Menschen auf. Sie wissen, dass Erdogan die "fetten Katzen", eine bis ins Mark korrupte Schicht von neureichen Zentralanatoliern, ungeniert mit Staatsgeldern, Staatsaufträgen, Steuervorteilen mästet. Zwar verzeiht ihm die Masse seiner Wähler die Vetternwirtschaft und Korruption bis heute, weil Krumen vom gedeckten Tisch stets auch für sie abfielen. Gerade erst ließ Erdogan allen Pensionisten 1000 Lira, rund 200 Euro, als Wahlgeschenk überweisen. Doch der Präsident und seine Partei plündern die Staatskassen für diesen Wahlkampf in beispiellosem Ausmaß. "Das kann nicht mehr lange funktionieren", sagt ein westlicher Wirtschaftsanalyst. "Die Türkei steht kurz vor einer schweren Rezession."

Seit jeher gilt, dass das Wahlverhalten in der Türkei vom wirtschaftlichen Wohlergehen bestimmt wird. Jetzt hakt es genau an dieser Stelle. "Ich habe immer für Erdogan gestimmt, aber diesmal wähle ich die Opposition", sagt Bahattim Yatim, Inhaber eines Baumarktes in Istanbul. "Keiner kauft mehr ein, selbst Bekannte von mir sind arbeitslos geworden." Die Inflation rast, hat offiziell 12 Prozent erreicht. Die allgemeine Arbeitslosigkeit steht bei 12, die der Jugend bei über 20 Prozent. Die Lira, an deren Kurs zum Dollar die Türken traditionell die ökonomische Lage bewerten, büßte seit Jahresbeginn mehr als 20 Prozent an Wert ein. "Es wäre ein Fehler zu glauben, dass die Türken zu unterdrückt sind, um die Realität wahrzunehmen", sagt Jenkins. "Erdogan hat lange ökonomisch geliefert, aber das tut er nicht mehr."

Angst vor Wahlbetrug

Viele Beobachter sind sich allerdings einig, dass der Präsident, dem bisher knapp die Hälfte der Wähler treu ergeben war, eine Niederlage nicht kampflos akzeptieren wird. So hat Erdogan bereits vor einigen Tagen in einer Geheimrede vor Parteimitgliedern dazu aufgerufen, HDP-Anhänger "mit spezieller Arbeit" am Wählen zu hindern. "Erdogan sieht den Machterhalt als Notwendigkeit nicht nur des politischen, sondern auch des physischen Überlebens an", sagt Jenkins. "Die Furcht vor einem Wahlbetrug ist also berechtigt."

Der Stimmungswechsel in der Türkei ist dennoch unübersehbar - auf den Straßen, in den Teestuben im ganzen Land, sogar im Fernsehen, das der Opposition inzwischen deutlich mehr Sendezeit einräumt. Erstmals seit zwei Jahrzehnten sieht es so aus, als sei Erdogan nicht mehr unbesiegbar. Wenn Muharrem Ince eine mögliche Niederlage Erdogans bei seinen Reden thematisiert, branden regelmäßig Sprechchöre im Publikum auf. Die Menschen rufen dann: "Ince Präsident!"

Mitarbeit: Can Öztürk.