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Der Apostel der Schlichtheit

Von Thomas Karny

Reflexionen

Der franko-amerikanische Industriedesigner Raymond Loewy (1893 - 1986) prägte Geschmack und Lebensstil von Generationen.


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Als Raymond Loewy im September 1919 von Bord des Überseedampfers "France" ging und im New Yorker Hafen erstmals amerikanischen Boden betrat, war er 26 Jahre alt, hatte eine Ingenieursausbildung hinter sich und vier Jahre in der französischen Armee gedient, aus der er nach dem Krieg hochdekoriert ausgeschieden war. Er hatte in Europa einige nützliche Empfehlungsschreiben mit auf die Reise bekommen und konnte außerdem ein Netzwerk von Kontakten, das seine beiden vor ihm in die USA emigrierten Brüder geknüpft hatten, als Basis für einen hoffnungsvollen Start in seiner neuen Heimat nützen. Der junge Mann, am 5. November 1893 in Paris geboren, stammte aus gut situierten Verhältnissen. Sein aus Österreich zugewanderter Vater war erfolgreicher Wirtschaftsjournalist, seine Mutter besaß reichlich Land. Loewy wird schnell zum glühenden Verehrer des "American way of life" und herausragenden Protagonisten des industriellen Designs, der den Geschmack und Lebensstil von Generationen beeinflusste.

Die Zeit, zu der Loewy in die USA kam, war geprägt von rauchenden Schloten, stampfenden Maschinen und unendlichem Lärm. Im Jahrhundert davor hatte die industrielle Revolution mit bahnbrechenden Erfindungen die Arbeitschritte beschleunigt und in der Folge das gesamte Alltagsleben mit einer neuen Schnelligkeit erfasst. Maschinen waren in erster Linie auf klagloses Funktionieren, nicht aber auf ein gefälliges Äußeres ausgerichtet. Es machte nichts aus, wenn die Mechanik der Hebel, Stößel und Schwungräder frei einsehbar war. Wer gerade den Komfort genoss, dass die Maschine die körperliche Arbeit ersetzte, der verschwendete keinen Gedanken an die ideale optische Form der Maschine. Doch Loewy, zunächst als Illustrator für die Zeitschriften "Vogue" und "Harper’s Bazaar" tätig, erkannte schnell, welch hohen Stellenwert das äußere Erscheinungsbild nicht nur in der Mode hat. Spätestens wenn zwei gleichartige Produkte für denselben Zweck um die Kundschaft buhlen, wird neben dem Preis und der Qualität das Design eine wesentliche Rolle spielen. Denn, so sein Credo, das auch seiner Autobiografie den Titel gab: "Hässlichkeit verkauft sich schlecht".

Loewys Karriere kam ausgerechnet in der Weltwirtschaftskrise 1929, als der Industriedesigner noch schlicht Formgestalter hieß, in Schwung. Sigmund Gestetner, dessen renommierte Fabrik in England gute, aber altmodisch wirkende Vervielfältigungsapparate herstellte, übertrug ihm während eines kurzen Amerikaaufenthalts das Re-Design des "Ream Duplicator 66". In nur drei Tagen modellierte Loewy aus Ton seinen Formvorschlag. All die zahlreichen Spindeln, Federn, Hebel und Zahnräder des Ur-"Duplicators" verschwanden unter einer wohlgeformten, einfach zu reinigenden und leicht abzunehmenden Hülle. Die gefährlich ausspreizenden Beine des Originals, die jeder Sekretärin zur Stolperfalle werden konnten, wurden durch vier horizontal ausgerichtete ersetzt. Gestetner war begeistert und ließ die Tonform als Vorlage für die Produktion nach England schaffen. Loewy hatte 2000 Dollar verdient und seinen ersten Großkunden gewonnen.

Bald standen prominente Firmen auf seiner Kundenliste. Er entwarf Haushaltsgeräte für Frigidaire, Getränkespender für Coca-Cola und Staubsauger für Singer. Er gab Verpackungsmaschinen ebenso eine neue Form wie Milchzentrifugen, Perforiermaschinen und Präzisionswaagen. Einen frühen spektakulären Erfolg erzielte er mit dem Kühlschrank "Coldspot" von Sears Roebuck: Nach seiner Neugestaltung stieg der Umsatz von 60.000 auf 275.000 Stück.

Loewys Handschrift war die Stromlinie, mit der er von der Lokomotive übers Auto bis zum Bleistiftspitzer so ziemlich alles versah, für dessen Gestaltung er beauftragt wurde. Bald hieß es: "Loewy streamlines the sales curve." Mit dem Bazillus der Geschwindigkeit infizierte er sich bereits als Kind während der Sommerferien in Trouville. Er war fasziniert von jenem donnernden Mercedes, der täglich in einer Wolke aus blauem Qualm und Staub den "International Herald Tribune" in die Normandie brachte. Bereits seine ersten Wagen, in den 1930er Jahren für die Hupp Motor Company entworfen, zeigten eine Abkehr von der damals üblichen Kastenform hin zu fließenden, dynamischen Linien. Er kreierte den legendären Greyhound-Bus, der mit seinem hinten höher gesetzten Passagierabteil und der Aussichtskuppel zum Symbol für die Mobilität der amerikanischen Nachkriegszeit wurde. Mit dem Studebaker Starliner von 1953 setzte Loewy als Verfechter der Reduktion einen von funktioneller Schlichtheit geprägten Kontrapunkt zu den damals üblichen chromüberladenen Straßenkreuzern.

Er verpasste Mitte der 1930er Jahre der legendären S1-Dampflokomotive ihre Stromlinienverkleidung, entwarf Schiffe und wandte sich auch der Innenausstattung von Zügen, Bussen und Flugzeugen zu. Er designte Büromöbel, Zahnpastatuben, Lippenstifte und das als Continental-Porzellan auf den amerikanischen Markt gebrachte Premium-Geschirr der deutschen Firma Rosenthal. Er entwarf zahlreiche Firmenlogos, darunter die Shell-Muschel und die Spar-Tanne sowie die Signets für Exxon und die lange Zeit für British Petrol typischen Doppelgroßbuchstaben BP. Zu seinen berühmtesten Arbeiten gehört die Umgestaltung der Lucky-Strike-Zigarettenschachtel. Das charakteristische "bull’s eye", bislang nur vorderseitig platziert, zeigte sich ab 1941 auf beiden Seiten. Die Verpackungsfarbe wechselte von Grün auf Weiß, was nicht nur optische, sondern auch olfaktorische Gründe hatte: Die grüne Farbe roch einfach schlecht.

Loewy erkannte früh, dass ein Unternehmen als Gesamtheit zu sehen und sich dementsprechend zu präsentieren hat. 1927 hatte er Horace Saks für sein neu errichtetes New Yorker Warenhaus in der Fifth Avenue beraten. Mit seiner Empfehlung, die Anzüge des Personals sowie auch Packpapier, Pappschachtel und Papiertüten einheitlich zu gestalten, entwickelte er für Sacks & Co. vor mehr als achtzig Jahren bereits, was heute selbstverständlich ist: Corporate Design. Er wird dieses Konzept in seinen späteren Arbeiten verfeinern und in vielen großen Unternehmen umsetzen.

Das Verkaufsschaufenster bei W. T. Grant in Buffalo, das sich halbkreisförmig aus der Fassade des Hauses hervorwölbte und durch das man Menschen beim Einkaufen sah, entstand auf Loewys Vorschlag hin: "Nichts animiert zum Kaufen mehr, als anderen Leuten beim Kaufen zuzusehen." Der mittlerweile vollkommen amerikanisierte französische Emigrant sah im bedingungslosen Konsum die Grundfeste des amerikanischen Wohlstands und verspottete die Europäer, die kaputte Dinge reparierten, anstatt sie gegen neue auszutauschen. Kurz nach dem Krieg realisierte Loewy in Houston für Foley Brothers eines der ersten vollautomatisierten Kaufhäuser. Ein System von Transportbändern, Lastenaufzügen, Rolltreppen, ringförmigen Sortieranlagen und Rutschen sorgte dafür, dass der Nachschub aus dem Lager nicht versiegte und die gekaufte Ware verpackt zur Kundengarage gelangte. Dort wurden die Pakete den Kunden in die herausfahrenden Wagen gereicht. Die fensterlose Gestaltung der Fassade, die das Kaufhaus zu einer architektonischen Besonderheit machte, ergab sich aus dem Umstand, dass alle Lagerräume außenseitig angelegt waren.

Die Raymond Loewy Association wuchs zu einem großen Unternehmen, das in New York, Chicago, Los Angeles, South Bend und London bis zu 250 Mitarbeiter beschäftigte und 140 Unternehmen beriet. 1946 wurde Loewy Präsident der elitären "Society of Industrial Design", die er zwei Jahre zuvor mit Henry Dreyfuss und Walter Dorwin Teague, wie er Lichtgestalten des amerikanischen Industriedesigns, gegründet hatte. In seinen späten Jahren wirkte Loewy als Berater der US-Regierung an der Umgestaltung des Flugzeuges Air Force One für Präsident John F. Kennedy mit und beriet später die Nasa hinsichtlich der Innenausstattung des Skylab. Aufsehen erregte die in den 1960er Jahren begonnene Tätigkeit Loewys für die UdSSR und die Zusammenarbeit mit dem russischen Designer Yuri Soloviev. Die Karosserie des Moskwitsch, so heißt es, trägt die Handschrift des Amerikaners. Die letzten Lebensjahre verbrachte Loewy in Monaco, wo er am 14. Juli 1986 hochbetagt starb.

Loewy sah sich zeitlebens als "Apostel der Schlichtheit", der überladene Formen, unnötigen Zierrat und Verwirrung stiftende Details verachtete. Er wusste, dass Design nicht Selbstzweck sein darf, sondern Hand in Hand mit Benutzerfreundlichkeit, Alltagstauglichkeit und Senkung der Fertigungskosten gehen muss. So wie bei der Überarbeitung des Designs der 6000 PS starken, auf der Strecke New York - Washington eingesetzten E-Lok GG1. Mit der geschweißten Stahlhülle hatte er in den 1930er Jahren einen immensen Fertigungsfortschritt initiiert: Zehntausende Nieten konnten gespart und die Herstellungskosten gesenkt werden.

Und er wusste auch, dass das Design den Konsumenten nicht überfordern darf. Er nannte es Maya: Most Advanced, Yet Acceptable. Ein Entwurf darf nur so modern sein, dass er von der Kundschaft gerade noch akzeptiert wird. Wenn sich heutzutage Besucher von Automobilausstellungen darüber ärgern, dass die toll aussehenden Prototypen nicht in Serie gehen, hat das genau damit zu tun. Was als Objekt im Zentrum einer Glittershow begehrenswert progressiv erscheint, würde im Mittelmaß des Alltags nicht akzeptiert werden. "Wenn sich die Aufgeschlossenheit der Jugend wenigstens bis zum 25. Lebensjahr erhielte", wünschte sich Loewy, "könnte vieles moderner gestaltet und dennoch leicht abgesetzt werden." Er litt darunter, dass die jugendliche Sehnsucht nach Neuem sehr bald dem Verlangen nach Gewohntem weicht und der Designer statt dem großen Entwurf meist nur die massenverträgliche Retusche setzen kann. Trotz allem konnte er mit Fug und Recht behaupten: "Ich habe den Alltag des 20. Jahrhunderts schöner gemacht." Und damit hatte Loewy schlussendlich doch sehr viel erreicht.