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Ohne Bildung von Kollektiven ist politisches Handeln unmöglich. Eine historische Rundschau.
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"Wir schaffen das" - Angela Merkels erstmals in der Bundespressekonferenz vom 31. August 2015 gelassen ausgesprochenes Wort wurde zum Losungswort für das Deutschland, Österreich, Europa, die Welt betreffende Flucht- und Migrationsproblem. Die Kanzlerin wiederholte ihr Mantra dutzendfach und bekräftigte es in der Neujahrsansprache 2016 mit dem Schlusssatz ". . . denn Deutschland ist ein starkes Land."<p>Immer lauter werdende Nega-tion folgte indes auf dem Fuß, verbunden mit der beunruhigendem Rechtswende der deutschen (und österreichischen) Innenpolitik. Auch aus den eigenen Reihen kam Kritik - der deutsche Innenminister Thomas de Maizière fügte zu Merkels Satz hinzu: "nicht ohne weiteres", viele CSU-Politiker meinten apodiktisch: "Wir schaffen das nicht mehr". Der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann wiederholte den zunehmend mutlos klingenden Appell an alle EU-Staaten: "Wir schaffen das nicht allein" - seine Beschwörung von "Menschlichkeit und Ordnung" verhallte im Tumult der verstörten Maifeier.<p>
Die Festung
<p>"Unser Europa", als Friedens- und Freiheitsprojekt gegründet, ist zur Festung namens FRONTEX mit "brummender" Rüstungsindustrie missraten, mit vorgelagertem Wassergraben des Mare nostrum, mit dichten Grenzen, Hotspots, Stacheldraht, Flüchtlingscamps, ein polizeilich-militärisches Instrumentarium für einen beabsichtigten "Dominoeffekt" der "hässlichen Bilder" (Außenminister Sebastian Kurz).<p>Die Bilder von Außen- und Binnengrenzen der EU sind grausame Realität: Ihr Hintergrund ist die von Wirtschafts- und Machtinteressen erfasste Kriegszone von Afghanistan und Irak bis Syrien, eingeschlossen die Dauerkrise um Iran und Israel/Palästina, hin zum fälschlich "Balkan" genannten exjugoslawisch/südosteuropäischen Raum (da gehört Österreich gleich mit dazu) mit seinen "Flüchtlingsrouten", das Scheitern des Arabischen Frühlings und die desperate Situation Nord- und Zentralafrikas.<p>Die Europäische Union ist weitgehend kongruent mit der Militärpolitik der NATO. Die Folgen dieses permanenten Kriegszustandes, als Hypothek des Imperialismus und Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, die in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts führten, haben sich unaufhaltsam ihren Weg nach Europa gebahnt, in Flüchtlings- und Migrantenströmen/Fluten/Tsunamis/Lawinen.<p>Chaos und Katastrophe dieser "Völkerwanderung", Nährboden für Elend, Hass und Terror, sind jedoch nicht naturgegeben, wie diese Metaphern suggerieren, sondern von globalen Macht- und Ausbeutungsstrategien verschuldet. Integration, als bedingungslose und möglichst rasche Assimilation missverstanden, droht mit unabsehbaren Folgen zu scheitern. Soziale und politische Gemeinwesen sind in der schwersten Krise seit den Weltkriegen und dem Faschismus.<p>In der Frage, wer wir sind und was wir wollen, stehen Demokratie, Menschenrechte und Gleichberechtigung, Toleranz und Frieden europa- und weltweit auf dem Prüfstand, manche meinen: auf der Kippe. Immer öfter wird humanitär in einem Atem mit Katastrophe genannt. Die Leitworte und -werte der Befreiung und Emanzipation verkehren sich in ihr Gegenteil: "We, the People", so leiteten die jungen United States of America ihre Verfassung ein (17. September 1787). "Wir sind das Volk, die Menschheit wir, / Sind ewig drum, trotz alledem", rief der "Trompeter der Revolution" von 1848, Ferdinand Freiligrath. "Wir sind das Volk", oder bald nach dem Mauerfall 1989, ins Nationale gewendet: "Wir sind ein Volk", war die Losung der friedlichen Protestbewegung in der DDR. Es schmerzt, wenn dieser Aufruf nun an denselben Orten in aggressivem Fremdenhass skandiert wird.<p>
Freiheitsgeschichte
<p>Am Ursprung der Moderne setzte die bürgerliche Französische Revolution das Programm der Aufklärung in die Praxis um. Der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte verband sich mit dem kollektiven Aufbruch der Nation als Republik gleichberechtigter Bürger: "marchons, marchons (. . .) aux armes, citoyens", erscholl der Befreiungsmarsch der Marseillaise (1792) über den Rhein, nach Italien und Polen. In dem für die Wiener Festwochen 2016 adaptierten Schauspiel Heiner Müllers (1980) "Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution" werden Größe und Grenzen dieses Befreiungsaktes aufgezeigt, wie dies schon Stefan Zweig in den "Sternstunden der Menschheit" getan hatte. In der Levée en masse brach die bewaffnete Revolution auf gegen die Macht der Monarchien und der feudalen Privilegien, Völker und Nationen Europas und der Welt folgten - seitdem ist Revolution in Permanenz.<p>"Sie und nicht wir", dichtete begeistert und bedauernd Klopstock aus deutscher Perspektive auf Frankreich blickend, um sich alsbald von der jakobinischen Phase der Revolution abzugrenzen. Friedrich Schiller folgte mit der Proklamation der Schweizer Freiheit als Vorbild für das kleinstaatlich zersplitterte Deutschland, im "Wilhelm Tell": "Wir sind ein Volk und einig woll’n wir handeln (. . .) Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr. " Der Dramatiker der neuzeitlichen Revolutionen Europas wollte jedoch den Vorrang der Humanität vor der Nation gewahrt wissen: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens: / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!"<p>Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der Selbstbestimmung in der Amerikanischen und Französischen Revolution brachte die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit der Dialektik von Ich und Wir in die moderne Weltgesellschaft - fortwirkend, sich entwickelnd als Liberalismus, Demokratie und Solidarität des arbeitenden, gleichfalls sein Menschenrecht auf ein geglücktes Leben fordernden Volkes: Sozialismus.<p>Das ,Volk‘ der bürgerlichen Gesellschaft spaltete sich in der kapitalistischen Ökonomie der technisch-industriellen Revolution in antagonistische Klassen: "An die Stelle der alten Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" - verkündete Marx im "Manifest der Kommunistischen Partei" (1848).<p>
Revolutionäres "Wir"
<p>Die zur Weltveränderung entschlossene Intelligenz, "Doktoren der Revolution" wie Heinrich Heine, erkannten früh die Zeichen der heraufziehenden sozialen Revolution und versetzten sich in die Lage des aufbegehrenden Proletariats. Dem Appell antwortete das solidarische "Wir" der Unterdrückten - "Die schlesischen Weber" (1844): "(Alt)Deutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch - Wir weben, wir weben!"<p>Dieses im Vormärz gegründete Wir der revolutionären Arbeiterbewegung klingt weiter in der "Internationale", trotzige Erhebung nach der Niederlage der Pariser Commune 1871 (Text von Eugène Pottier, Melodie von Pierre Degeyter): "Es rettet uns kein höh’res Wesen, / Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. / Uns aus dem Elend zu erlösen, / Können wir nur selber tun!" 1907 verfasste der Bremer sozialdemokratische Lehrer Wilhelm Eildermann, später Mitglied der KPD und der SED, einen Text auf die Melodie des populären Andreas-Hofer-Liedes "Zu Mantua in Banden der treue Hofer war" unter dem Titel "Dem Morgenrot entgegen" mit dem Refrain "Wir sind die junge Garde des Proletariats". Das Lied wurde zur Hymne des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol. (2004 erregten Tiroler Jungsozialisten den Unmut der Tiroler Schützen durch das Absingen dieser Liedfassung und handelten sich eine Strafanzeige wegen Verhöhnung der sakrosankten Tiroler Landeshymne ein).<p>Um 1927, in der Krise um den Justizpalastbrand, entstand das Lied "Die Arbeiter von Wien" (von Fritz Brügel), die Hymne des Roten Wien, des Sozialismus in einer Stadt: "Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt. / Wir sind der Sämann, die Saat und das Feld. / Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd, / Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat. . . "<p>Vor der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, vor der Anerkennung der Farbigen - versklavt, kolonisiert, "zivilisiert" - als gleichwertige, gleichberechtigte Mitmenschen lag noch ein langer schwieriger Weg. Im erfolgreichen Wahlkampf 2008 gab Barack Obama auf die Frage, ob man in der Gesellschaft der USA Gerechtigkeit und Wohlstand schaffen, den Weltfrieden erreichen und sichern könne, selbst die berühmte Antwort: "Yes, we can." Die Parole der afroamerikanischen Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King (ermordet 1968) hallt hier nach: "We shall overcome".<p>
Hymne mit Text
<p>Schillers "Ode an die Freude" (1785 in prekärer Situation im Gartenhäuschen von Gohlis bei Leipzig gedichtet) ist als Schlusssatz von Beethovens Neunter Symphonie die instrumental gespielte Europa-Hymne geworden. Wir sollten auf ihren Text hören: "Freude (in manchen Fassungenauch): Freiheit. Schöner Götterfunken, / Tochter aus Elysium. / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligthum." Und denken wir die Aussagen des vorrevolutionären Textes in seiner Erstfassung mit: "Bettler werden Fürstenbrüder (. . .) / Männerstolz vor Königsthronen, / Dem Verdienste seine Kronen, / Untergang der Lügenbrut! (. . .) Rettung von Tirannenketten."<p>Darum also geht es, wenn wir uns der Frage stellen, was das ist, was wir schaffen sollen und müssen, mehr denn je: Befreiung, Menschenwürde und Solidarität.
Wolfgang Häusler, geboren 1946, war bis 2004 ordentlicher Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien.
Am 6. Juli, 19.00 Uhr, hält Wolfgang Häusler im Alten Rathaus, Wipplingerstraße 8, eine "Wiener Vorlesung" zum Thema "‚Sie und nicht wir.’ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im revolutionären Prozess Europas und der Welt."