Die Tunesier genießen ihre neue Freiheit auch in der Diaspora. | Bei Austro-Syrern bleibt Lage angespannt. | Wien. Der "arabische Frühling" macht vor Wien nicht Halt. Sein wichtigster Schauplatz wurde der Stephansplatz. Angefangen hat er unscheinbar. Am 8. Jänner fand die erste Demonstration gegen den tunesischen Präsidenten Ben Ali statt. Angekündigt waren 200 Teilnehmer, gekommen sind 50. "Wo sind die Demonstranten?", fragte ein Polizist Amor Jelliti, den Organisator. "Die Leute haben Angst", entgegnete er.
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Eine Woche später initiiert Jelliti eine weitere Kundgebung. Ben Ali ist diesmal bereits aus Tunesien geflohen. Nun kommen 500 Exil-Tunesier. Auf einen solchen Anstieg an Sympathisanten der Revolution nach dem Sturz des Regimes hoffen nun auch die demonstrierenden Syrer in Wien.
Diktaturen belasten ihre Bevölkerungen selbst in der Diaspora. Spitzel und Geheimdienste sind auch im Ausland aktiv. Misstrauen und Angst in den Communities sind die Folge. Regime-Kritiker können Verwandte daheim nicht besuchen, am Flughafen wäre für sie schon Endstation. Ein Foto von der Teilnahme bei so einem Protest kann verheerend sein.
Rund 6000 Menschen in Österreich haben tunesische Wurzeln. "Fast alle waren gegen des Regime", erzählt Monther Abbassi, ein Austro-Tunesier, der seit einem Jahr einen Frisiersalon in Wien-Josefstadt betreibt. Auch hierzulande hatten sie es nicht gewagt, offen über ihre politischen Ansichten zu sprechen. "In den tunesischen Clubs hat man aufgepasst, was man sagt. Über den Präsidenten durfte man nicht reden, und mit der heimischen Politik musste man immer zufrieden sein", berichtet Abbassi. Nur mit seinen Freunden habe er sich offen ausgetauscht.
Jene, die es schon vor dem Sturz Ben Alis gewagt hatten, ihren Mund aufzumachen, waren meist politische Flüchtlinge, die ohnehin keine Chance auf Heimkehr hatten. Zu ihnen gehörte auch Amor Jelliti. "Viele Tunesier wollten nicht Kontakt zu mir haben", erinnert er sich. "Ich kenne zwei Menschen, die in Tunesien verhaftet worden sind, weil sie meine Bekannten waren." Anfang der 90er Jahre, mit 37 Jahren, war Jelliti über Algerien, Libyen und Malta schließlich nach Österreich geflohen.
Ohne Mitglied einer Partei zu sein, war er schon von klein auf gegen die Politik. Die soziale Ungerechtigkeit empfand er als unerträglich. "Ich wuchs in einem Dorf ohne Straße, Schule und Wasser auf. Aber die 45 Kilometer entfernte Tourismus-Region am Meer hatte alles." Schwerwiegende Folgen für seine gesamte Familie hatte sein offener Protest. Die Flucht trennte ihn von seiner Frau und den vier Kindern, die ihm erst sieben Jahre später - mit Hilfe des Roten Kreuzes - nach Österreich nachfolgten. In der Zwischenzeit hatte seine Frau ein Jahr im Gefängnis verbracht und musste weitere fünf Jahre lang fünf Mal täglich zur Polizei gehen.
Die Zeit in Wien war anfangs schwer, auch für Jellitis Kinder. Mittlerweile haben alle die österreichische Staatsbürgerschaft. "Ich liebe Österreich. Das ist meine zweite Heimat, hier habe ich Freiheit gehabt", sagt Jellilti. Mittlerweile ist er selbständig und engagiert sich als Obmann des Vereins "Nordafrika Liga" für Menschenrechte und Umweltschutz. Über seine Geschichte redet er ungerne. "Die Verletzungen sitzen sehr tief."
Konflikte unter Syrern
Seit dem "arabischen Frühling" hat Jelliti erstmals wieder seine Heimat besucht. Auch in Österreich merkt man die Veränderung. "Seit Jänner ist alles anders", meint Abbassi. Die Angst vor dem tunesischen Geheimdienst ist weg und die Tunesier haben ein neues Selbstbewusstsein. Abbassi lebt seit 18 Jahren in Österreich, doch auf seine tunesische Herkunft ist er gerade jetzt sehr stolz. Schließlich hat der "arabische Frühling" von seinem Land aus begonnen.
Von dieser Freiheit können die Syrer erst träumen. Sie verfolgen die Ereignisse in ihrer Heimat ebenfalls gebannt, auch die Jugend. "Facebook ist die verlässlichste Quelle", erzählt Ahmad Morad. Er ist erst 16 Jahre alt und beim Protest gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad aktiv dabei. "Ich war inspiriert durch die Revolution in Ägypten und hatte das Ziel, über Facebook eine Revolution in Syrien in Gang zu setzen", erzählt er. Nun hofft Morad auf einen Sturz des Regimes. Denn vorher wird er die Heimat seiner Eltern nicht wieder besuchen können. Das letzte Mal war er vor vier Jahren in Syrien. Bei Telefonaten nach Syrien wird über Politik nicht gesprochen. Austro-Syrer, die loyal zum Regime stehen, haben Morad bereits beschimpft. Auf Facebook haben sich aber tausende Freunde seinem Protest angeschlossen, darunter auch Menschen in Syrien.
Rund zehn Demonstrationen gegen Syriens Regime gab es bereits auf dem Stephansplatz. Unter den durchschnittlich 200 Teilnehmern sind auch junge Altersgenossen von Morad. Einer von ihnen ist Muhammad Jaddah, der gerade den Zivildienst beendet. Er ist schon seit Kindheitstagen mit der politischen Situation in Syrien konfrontiert. Sein Vater war vor 30 Jahren aus politischen Gründen geflohen. "Meine Eltern haben mich gewarnt, nie schlecht über den Präsidenten zu reden", erzählt er. Zu Hause verfolgt Jaddah via arabisches TV die Geschehnisse in Syrien. Doch mit einigen Syrern in Österreich will er nichts zu tun haben. "Wir haben syrische Treffs gemieden. Einige Leute dort stehen dem Regime loyal gegenüber. Man weiß bei niemandem, ob er ein Spitzel ist, der dich testet und schaut, ob du das Regime kritisierst. Ich halte daher Distanz."
Letzten Samstag musste die Polizei am Stephansplatz einschreiten. Diesmal hatten sich hundert Assad-Anhänger zu einer Kundgebung versammelt. Unter den 15 Gegendemonstranten war auch Jaddah. Am darauf folgenden Tag folgte am Stephansplatz wieder der Protest der Regime-Kritiker. Unter ihnen befinden sich Sunniten, Christen und Alawiten. Zumindest bei ihnen macht sich ein verstärktes Zusammengehörigkeitsgefühl bemerkbar. Auch wenn es bisher nicht zum Umsturz gekommen ist, sei auch ein stärkerer syrischer Nationalstolz in Österreich spürbar, meint Morad. Das war früher nicht so. "Die Syrer wurden schnell zu Österreichern. Sie sind sehr unauffällig."
Einige Passanten am Stephansplatz bleiben nachdenklich stehen - beim Anblick von Plakaten, die gefolterte, tote Syrer zeigen. Der Protest geht weiter. Am Freitag gibt es einen Marsch zur syrischen Botschaft.