Vietnam hat die Folgen des langen Krieges überwunden, und gilt als Land mit großem Wachstumspotenzial. Für die Mehrheit der Menschen ist ein Leben im Wohlstand aber noch eine Utopie.
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Die Farbe Blau scheint in Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon) die bevorzugte Farbe zu sein. Die Glasfassaden der Konzernhochburgen im Zentrum spiegeln sie in allen Schattierungen, sie blitzt in den imposanten Bauwerken der Franzosen auf, die Vietnam ab 1858 hundert Jahre hindurch kolonisiert hatten; mit der sogenannten Friedensfarbe sind zahllose der glatt und stillos hochgezogenen Wohnblöcke in den Randbezirken versehen, in Pagoden und Tempeln dominiert das Blau. Ein Himmelsblau über Saigon lässt sich allerdings suchen: Smog hängt in und über der Stadt - schwül, 26 Grad.
Karawanen von Mopeds durchschwärmen Saigon. Statussymbol und zugleich wendiges Fortbewegungsmittel für Jung und Alt, Frau und Mann, vor allem günstiges Lieferfahrzeug für Straßenmärkte und Garküchen ohne Zahl. Dem Sozius aufgetürmt: Bier- und Getränkekisten, Käfige mit Hühnern, Welpen, Eierkartons, Blumen, Obst, Gemüse, Mehlsäcke, Möbel. Oder auch die Familie; ein Kind vor, zwei hinter dem Fahrer - und noch eine weitere Person. Gebrechlich wirkende Alte werden per Moped transportiert. Ohne Mund-Nasenschutz sind nur wenige Fahrer zu sehen, fast jeder Fußgeher trägt diese Abgasfilter, selbst in den städtischen Schulbussen behalten die Kinder sie auf.
Hektik und Fleiß
Rikschas und PKWs aller Größen und Preisklassen mischen die Dominanz der Einspurigen auf. Eine Straßenquerung bei Lebensgefahr? Panta Rhei, alles fließt, sagt Heraklit, also Nase zu und hinein. Ampeln ja: dem Anschein nach eher als Empfehlung. Gelegentlich lösen sich Fahrräder aus dem Gewusel, oft von jungen Frauen getreten, die ab 6.30 morgens via am Rad angebrachter Lautsprecherbeschallung ihre Waren anbieten: Baguettes, Gemüse, Getränke, Schuhbänder, Batterien - tüchtige, zähe Wesen, die zumeist nicht nur Kinder, sondern auch ein, zwei Elternpaare (mit) zu erhalten haben. Das bequem machende, sich auf den Staat verlassende Spiel hiesiger Vollkaskogesellschaften gibt es in Vietnam nicht. Rund um die Uhr Geschäftigkeit.
Siebzig Prozent der Einspurigen fahren mit Führerschein. Wer von der Polizei ohne erwischt wird, zahlt kräftig. Die Luft ist zum Schneiden. Saigon ist ein lauter, auf Hochdruck dampfender Kochtopf; wenn er sich abzukühlen anschickt, ist die Nacht fast vorbei. Maßnahmen zur Entlastung der boomenden Stadt mit ihren neun bis zehn Millionen Menschen, stehen am Plan, unter anderem ein U-Bahnbau, auch am Straßennetz wird heftig gebaut.
Wohin der Blick fällt, hektische Produktionsprozesse, die über zahllose Probleme hinwegtäuschen. Ein Arbeiter bringt es auf 10 bis 20 Euro täglich, so er bereit ist, vierzehn Stunden (und länger) zu arbeiten. Wiewohl die globale Finanzkrise um die Sozialistische Republik Vietnam mit ihren dreiundsechzig Provinzen keinen Bogen gemacht hat, hat sich die Armut in den letzten Jahren halbiert, die allgemeine Versorgung bessert sich zusehends.
Doi Moi, das bereits 1986 kreierte Zauberwort, das für wirtschaftliche Erneuerung und Liberalisierung steht, scheint in der Gesellschaft - nach verheerenden Kriegen und Beseitigung der massivsten Schäden, nach US-Embargos, Dürren und Hungersnöten - neue Kräfte freigesetzt zu haben.
In den Kadern der Wirtschafts- und Geschäftsbosse mehrt sich der Wohlstand, das Vermögen einiger korrupter Politiker soll in die Millionen Dollar gehen. Als relativ abgesichert darf sich auch die gebildete Mittelklasse sehen. Für den großen Rest der rund 91 Millionen Vietnamesen ist Wohlstand eine Dimension in der Ferne. Ein halbwegs lebbarer Wohnraum ist für den Großteil nicht leistbar, oft leben noch zwei, drei Generationen auf engem Raum zusammen. Das Durchschnittseinkommen eines Industriearbeiters beläuft sich monatlich auf rund 136 Dollar, seine Lebenserwartung liegt um die siebzig Jahre.
Gebremster Fortschritt
Vietnam wird als Zukunftsmarkt gesehen; die Regierenden des Einparteienstaates (KPV) haben zahlreiche strukturelle Reformen auf den Weg gebracht, wenngleich es derzeit (der Krise wegen), eher schleppend vorangeht. Die Sanierungen etlicher maroder Staatsbetriebe sind noch nicht abgeschlossen, wohl aber die Bodenreformen: die Bauern bekamen ihr Land zurück, zahlreiche Pächter erhielten eigenes Land. Aber auch hier beginnt die Stadt-Land-Schere auseinander zu klaffen. Die Jugend scheint vom Smog der Städte angezogen zu werden.
Nach Mitternacht, wenn es etwas ruhiger zu werden scheint in Saigon, lässt sich in der Nachbarschaft des Hotels Hundegekläff vernehmen. Fragt sich, wie lange noch - in Erinnerung an den beim Ben Thanh Markt (mit Nachtbetrieb) am Straßenrand stehenden Käfig, in dem sich ein Dutzend Welpen unentwegt auf die Beine steigen. Sie stehen zum Kauf, um gefüttert und verspeist zu werden. Eine besonders schmackhafte Rasse, wie zu erfahren war. Hier wird fast alles verspeist und verwertet. Unzählige Lokalitäten, direkt am Gehsteig, auf Plastikfolien. Von einer jungen Frau wird ein halbes Schwein tranchiert, die Leute stehen Schlange, nach zwei Stunden ist alles verkauft.
In Garküchen, direkt vor der Haustür, wird angeboten: Fisch und Meeresfrüchte aller Sorten, Huhn, gekocht oder gegrillt, Schwein, geschmort und hauchdünn geschnitten, und immer und überall auch Cha gio, die Frühlingsrolle; dünner Reisteig, gefüllt mit Krabben oder Huhn oder Schwein, mit Pilzen, Reis, Nudeln, Zwiebeln, Kräutern, dazu gelbe, rote, sehr scharfe Saucen. Und Suppen. Mit der Nudel-Gemüsesuppe beginnt der Vietnamese den Tag, sein Hauptnahrungsmittel ist Reis.
Diese Speisen führen offenbar nicht zur Fettleibigkeit. Während sich bei uns etliche Konzernbosse und Lobbyisten mit den Fragen durchfüttern lassen, was fett macht und was nicht, und zugleich immer mehr Fettleibigkeit um sich greift, lässt sich hier kein einziger vom ewigen Fastfood fett gewordener Jugendlicher sehen, nur hie und da ein stämmiger Älterer. Schiebt sich eine Wampe ins Blickfeld, ist diese zu 99 Prozent nicht vietnamesisch.
Man verlässt Saigon Richtung Mekong zwischen hochgezogenen Wohnblöcken und solchen im Rohzustand, dazwischen springen Wellblechhütten ins Auge. Die Straße ist neu, sie quert mit Blütenwucher behängte Brücken und den Saigon-Kanal, der, obschon teilreguliert, weiterhin stinkt. Die Abwässer der Stadt werden fast durchwegs in den Kanal geleitet. Es gibt Sickergruben und Mülldeponien. Ein Großteil des Mülls wird zwecks Energiegewinnung verbrannt.
Im Mekongdelta
Die Lebensader Vietnams ist die Straße 1A, die, vom Norden kommend, Hanoi durchläuft, danach Hue, die schmale Mitte, bis in den Süden, ins Mekongdelta. Im Umraum Saigon macht sie einen nicht stark frequentierten Eindruck. Es gibt Mautgebühren, die sich bei 40 Kilometern auf etwa 200 Dong (fünf Dollar) belaufen, wohl zu hoch fürs normale Durchschnittseinkommen, also nimmt man die Überlandstraßen. Gerast darf auf diesen nicht werden, zudem es durch Dörfer geht. Für etwa 200 Kilometer beraumt der Kleinbusfahrer sechs bis acht Stunden ein. Das ist nicht lustig.
Der Mekong, aus dem tibetischen Hochland kommend, ist einer der längsten Flüsse der Erde. Symbol vietnamesischen Lebens, Song Cuu Long nennen ihn die Vietnamesen liebevoll: Fluss der neun Drachen oder auch Fluss der tausend Fische. Hier, im Delta, steigt er mit neun mächtigen Seitenarmen ins Südchinesische Meer. Siebzehn Prozent der teils riesigen Fische entstammen den Armen. Es wird alles verspeist oder bis zur Gräte verwertet. In den Farmen wird Trockenfisch hergestellt und in riesigen Stahlurnen gärt und gart monatelang in der prallen Hitze die Fischsauce, die in fast jedes Gericht hinein muss. Das Delta der Tausend Wasserwege und das üppige Grün der Reisfelder sind gut für das Auge. Rund vierzig Millionen Tonnen Reis werden in Vietnam jährlich geerntet, über 20 Prozent auf den Weltmärkten entstammen dieser Reiskammer. Vietnam ist dabei, Indien zu überholen.
1954, nach der endgültigen Niederlage der Franzosen samt Kolonialherrschaft, kam es, u.a. nach einem Beschluss in Genf, zur Teilung. Im Norden bestätigte sich die Demokratische Republik Vietnam, im Süden die Republik Vietnam, die (angeblich) vom Norden angegriffen worden war. Eine Situation, die die Amerikaner nicht akzeptieren wollten. 1964 begannen die USA unter Präsident Lyndon B. Johnson den Norden zu bombardieren, dann ging es im Süden weiter. Die Kämpfe währten bis 1975. 1976, nachdem die Nordvietnamesische Armee den Süden erobert hatte, kam es zur Wiedervereinigung des Landes.
Gedenkstätte Cu Chi
Das etwa 200 Kilometer lange Tunnelsystem des Vietkong, in dem sich zahllose Partisanen versteckt gehalten hatten (Teilbereiche waren bereits im Abwehrkampf gegen die Franzosen erprobt worden), lädt in einem mittlerweile restaurierten Stück zur Besichtigung ein.
In drei in die Tiefe gegrabenen Etagen gab es Küchen und Aufenthaltsräume, Kommandozentralen und Waffenlager, Lazarette und Schulen. Hier wurde gestorben und geboren. Der drahtige Vietnamese kam mit dem Leben in diesen engen Gängen zurecht. Er legte Sprengsätze und Minen aus und verschwand laut- und spurlos in winzigen Löchern mit laubbedeckter Abdeckung. Der US-Soldatenstiefel polterte darüber hinweg. In Netzwerken aus Fallgruben, versehen mit vergifteten Bambusspießen, starben zahllose amerikanische Soldaten.
Das Areal dieses Ho-Chi-Minh-Pfads, das sich weit über das Grenzgebiet Kambodschas erstreckte, stand unter Beschuss: Millionen von Bomben fielen darauf, zudem wurden Millionen Liter an Herbiziden versprüht: mit Agent Orange wurde entlaubt und vergast, Dörfer und Städte wurden ausradiert und verwüstet.
Doch letztlich hatte sich das kleine Land erfolgreich gegen das mächtigste und reichste der Erde verteidigen können. Die Zahl der Toten, hüben wie drüben, sollen hier nicht geschätzt werden. Betroffenheit ja: zwischen zahllosen Bombentrichtern. Kein Tier. Keine Vogelstimme.
Dine Petrik, geboren 1942, lebt als Schriftstellerin in Wien. Heuer erschien ihr neuester Gedichtband: "Magenta" in der Edition ArtScience, St. Wolfgang.