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Der auslotbare Weltraum

Von Christian Pinter

Wissen

Das im Dezember 2013 gestartete europäische Weltraumobservatorium Gaia identifiziert | Sternenströme und kartiert eine Milliarde | Sonnen in unserer Milchstraße.


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Das stolze Weltraumobservatorium der Europäer sieht so aus, wie sich manche Zeitgenossen "fliegende Untertassen" vorstellen. Das liegt am zehneinhalb Meter weiten Sonnenschirm, der die Instrumente im Gehäuse darüber in stetem Schatten hält. Sie fürchten jeden Sonnenstrahl wie ein Vampir. Die Erwärmung hätte Materialausdehnungen zur Folge, die wiederum die Messgenauigkeit beeinträchtigen würden. Dank des Schirms bleibt die Temperatur verlässlich unter minus 100 Grad C.

Der Start erfolgte am 19. Dezember 2013 vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana aus. Eine Sojus-Rakete und die ebenfalls aus Russland stammende Fregat-Oberstufe sorgten für den nötigen Schub, um die "Untertasse" auf Kurs zu ihrem Arbeitsplatz zu bringen. Sie wird diesen speziellen Ort rund 1,5 Millionen Kilometer außerhalb der Erdbahn in den nächsten Tagen erreichen. Kleine Stickstoff-Düsen versetzen sie dann in gemächliche Rotation, damit ihre beiden Teleskope in den nächsten fünf Jahren jeden Punkt rund 70 Mal ins Visier nehmen können.

Dicker Sternenkatalog

Auf den ersten Blick scheint der Name der griechischen Erdgöttin schlecht gewählt. Denn mit der Erdbeobachtung hat die Mission "Gaia" nichts zu tun. Ihr Metier ist vielmehr der Sternenhimmel. Aber der soll ja einst von der göttlichen Gaia erschaffen worden sein, um sie selbst zu bedecken. Der Sternenreichtum wird nun von einer Kamera mit 930 Megapixeln abgelichtet; das ist 50 Mal mehr als eine handelsübliche Spiegelreflexkamera bietet. Die anderen Instrumente Gaias zeichnen Helligkeit, Farbe und Spektren der Sterne auf.

Das erste umfangreiche Sternverzeichnis der Geschichte kannte rund 850 Einträge. Der Astronom Hipparch schuf es ab 135 v. Chr. auf Rhodos. Gaia soll nach fünf Jahren Arbeit im All den dicksten aller je erstellten Sternkataloge vorlegen. Er umfasst eine Milliarde Objekte - und damit vielleicht ein Prozent aller Milchstraßensterne.

1718 verglich Edmond Halley die antiken Kataloge mit zeitgenössischen. Er bemerkte, dass einige Sterne wie Aldebaran, Sirius oder Arktur ihre Position relativ zu den anderen etwas verändert hatten. Die Fixsterne standen also gar nicht so still wie stets angenommen, sondern trieben offensichtlich durch den Weltraum.

Aus unserer Perspektive zerfällt diese Raumbewegung in zwei Komponenten. Um, wie einst Halley, die seitliche Komponente zu erfassen, gilt es die Sternposition am Firmament zweimal zu ermitteln - mit möglichst großem zeitlichen Abstand. So spaziert z.B. Barnards Pfeilstern durchs Sternbild Schlangenträger und schiebt sich dort in 175 Jahren um eine ganze Vollmondbreite weiter.

Die zweite Bewegungskomponente ist auf uns zu bzw. von uns weg gerichtet. Dank eines vom Österreicher Christian Doppler schon 1842 postulierten Effekts lässt sie sich mit einer einzigen Messung erheben. Man studiert die Spektren. Denn abhängig vom Sterntempo ziehen die Spektrallinien unterschiedlich weit von ihrem angestammten Platz weg. Beide Komponenten zusammen verraten die wahre Raumgeschwindigkeit: Der erwähnte Pfeilstern schießt demnach mit über 500.000 km/h durchs All. Er ist ein sogenannter "Schnellläufer".

Während sie außerhalb der Erdbahn um die Sonne kreist, verändert Gaia ihren Standpunkt. Salopp gesagt weilt sie, ähnlich der Erde, einmal 151 Millionen Kilometer links und sechs Monate später ebenso weit rechts der Sonne.

Der Parallaxen-Effekt

Dieser Ortswechsel beeinflusst die Perspektive. Daher scheint ein naher Stern vor dem fernen Hintergrund in halbjährlichem Rhythmus hin- und her zu springen: je kleiner sein Abstand, desto auffälliger wird diese "Parallaxe" (griechisch, "Veränderung"). Man versteht den Effekt sofort, wenn man den Zeigefinger abwechselnd mit dem linken und dem rechten Auge betrachtet.

Angesichts der kosmischen Weiten sind die Parallaxen von Sternen verschwindend klein. Ihr Nachweis gelang erst 1838. Schon bei Proxima Centauri, unserem allernächsten Nachbarn, ist die perspektivisch bedingte Winkelverschiebung winzig wie ein Stecknadelkopf in 1000 Metern Entfernung. Daraus ermittelte man eine Erddistanz von 4,2 Lichtjahren.

Diese Distanz ist ein ganz entscheidender Parameter. Nur wer sie kennt, darf aus der scheinbaren Helligkeit eines Sterns am irdischen Himmel auf dessen wahre Leuchtkraft schließen. Liest man die Temperatur aus dem Spektrum ab, lässt sich dann auch der Sterndurchmesser berechnen. Handelt es sich um ein Doppelsternsystem, werden zusätzlich noch die Massen der beiden Himmelskörper offenbar.

Später entwickelten Astronomen weitere, aufeinander aufbauende Methoden zur Entfernungsmessung: Ihr Zollstock reicht heute mehr als 13 Milliarden Lichtjahre ins All hinaus. Allerdings setzen diese Verfahren auf statistische Werte, die streuen können; oder auf Modelle, die im Detail umstritten sind. In jedem Fall muss die ganze Methodenkette an nahen Sternen geeicht werden. Und das geht nur mit Parallaxen.

Leider läuft sich die erdgebundene Parallaxenmessung schon nach hundert Lichtjahren tot. Die Winkelverschiebungen werden dann allzu klein; die turbulente Lufthülle verschmiert die Ergebnisse außerdem. Deshalb schoss die ESA 1989 den Astrometrie-Satelliten Hipparcos ins All. Im luftlosen Raum kreisend sah er sich die gegenseitigen Winkelabstände von Sternen immer wieder an.

Er steckte schließlich die Position von 2,5 Millionen Sonnen ab. Bei 120.000 erzielte er eine besonders eindrucksvolle Genauigkeit. Der exakt auslotbare Weltraum wuchs um ein Vielfaches. Nur bei sehr schwachen Sternchen musste Hipparcos passen. So dachte man schon 1993, im Jahre seiner Pensionierung, über ein Nachfolgeprojekt nach: Gaia soll ein Vielfaches an Sternen erfassen und dabei sogar noch 50 Mal feiner messen.

Versetzen wir die Bordinstrumente gedanklich an den Rand von Wien: Der Satellit Hipparcos hätte damit die Breite eines Menschenhaares am gegenüberliegenden Stadtrand auflösen können. Gaia würde das von Wien aus mit einem Haar in Paris schaffen! Bei 100 Millionen Sternen gewinnt sie außerdem Spektren. So wird neben den stellaren Distanzen auch die Raumbewegung in 3D erkennbar. Ziel ist eine dreidimensionale, dynamische Sternkarte, in der man die Zeit vor- und zurückspulen kann. An ihrer Erstellung sind auch heimische Astronomen beteiligt. Damit die ehrgeizige Aufgabe gelingt, wird Gaias eigene Position im Raum genauestens überwacht - unter anderem vom Wienerwald aus. Dort setzt die Universität Wien das 1,5 Meter-Teleskop des Leopold-Figl-Observatoriums dazu ein.

Jeder Wanderer weiß: Einen Wald überblickt man von einem erhöhten Standort aus leichter, als wenn man mittendrin steckt. So ähnlich geht es Forschern mit unserer Milchstraße. Die Schau aus der Vogelperspektive ist ihnen verwehrt. Stattdessen sehen sie in jeder Richtung Sterne über Sterne. Je genauer sie deren Erdabstand kennen, desto besser können sie Auskunft über die wahre Form und Struktur der Milchstraße geben. Deren besonders sternreiche Hauptebene nehmen wir als zartes, diffus anmutendes Milchstraßenband wahr. Doch auch alle anderen Lichtpunkte, die das Auge am Firmament erspäht, gehören zu unserer Galaxis - ein Name, in dem das altgriechische Wort für "Milch" steckt. Tatsächlich umfasst sie mindestens hundert Milliarden Sterne, und ist selbst nur eine von hunderten Milliarden Galaxien im Universum.

Balkenspiralgalaxie

Von der Seite betrachtet, sähe unsere Galaxis in etwa aus wie eine Sammellinse oder wie zwei aufeinander gestülpte Untertassen. Durchmesser: rund 100.000 Lichtjahre. Wie man seit 1919 weiß, ruht unsere Sonne keineswegs im Angelpunkt der Scheibe. Vielmehr umkreisen wir das galaktische Zentrum in 27.000 Lichtjahren Abstand. In der Mitte des Systems formen dicht gedrängte Sterne eine Art "Balken". Ob an dessen Enden zwei oder vier Spiralarme ansetzen, ist umstritten. Wir leben jedenfalls in einer "Balkenspiralgalaxie".

In den Spiralarmen wird kaltes Gas zu Molekülwolken verdichtet. Dort können sich neue Sterne bilden, vor allem aus Wasserstoff und Helium. Die Sternspektren zeigen aber auch einen zunehmend wachsenden Anteil von schwereren Elementen an. Diese wurden zuvor in anderen, älteren Sonnen geschmiedet.

Schon 1944 ordnete man die Sonnen zwei unterschiedlich alten Populationen zu. Deren Vertreter dominieren jeweils bestimmte Regionen der Milchstraße. Die Methusalems findet man häufig in der Nähe des galaktischen Zentrums, die Jünglinge vor allem in den Spiralarmen. Heute kennt man sogar fünf Unterpopulationen. Gaias Spektren sollen noch feinere Unterteilungen erlauben. Man will damit eine Art "Stammbaum" der Sterngenerationen zeichnen. Allerdings wurden nicht alle Sonnen wirklich in der Milchstraße geboren. Etliche sind Raubgut. Unsere Galaxis hat sie Zwerggalaxien entrissen, die ihr zu nahe kamen - wie die beiden Magellanschen Wolken am Südhimmel. Dieser "Kannibalismus" spielte offenbar eine wichtige Rolle in der galaktischen Entwicklung. Zeugen sind etliche Gruppen von erbeuteten Sternen, die noch auf ähnlichen Bahnen durch die Milchstraße jagen. Gaia wird viele weitere Sternströme identifizieren.

Reste einstiger Zwerggalaxien finden sich auch im sogenannten "Halo", der die Milchstraßenscheibe ähnlich einer Kugelschale umgibt. Selbst dieser Halo soll noch in eine viel größere Anhäufung eingebettet sein, geformt aus Dunkler Materie. Sie ist völlig unsichtbar und verrät sich bislang bloß durch ihre Anziehungskraft: Sternbewegungen, von Gaia akribisch erfasst, gestatten vielleicht auch detailliertere Aussagen über diesen "Dunklen Halo" unserer Milchstraße.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Internet: www.himmelszelt.at