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Der Ausnahmezustand für die Ewigkeit

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

In der Türkei wurden erstmals Details zu der geplanten Verfassungsänderung bekannt: Erdogan soll "Dekrete" mit Gesetzeskraft erlassen können. Damit wird der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand zur Normalität.


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Istanbul. In der Türkei will die islamisch-konservative Regierungspartei AKP das Parlament zugunsten des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan weitgehend entmachten. Als künftiger Chef der Exekutive wird seine Macht kaum noch Kontrollen unterliegen. Das folgt aus Einzelheiten des geplanten Präsidialsystems, die der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am Dienstag auf dem Weg zu einem Staatsbesuch in Moskau erstmals nannte.

Demnach soll Erdogan zwar keine "Gesetze", aber "Dekrete" mit Gesetzeskraft erlassen können - wie bereits im derzeit geltenden Ausnahmezustand. Erdogan regiert schon seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli fast uneingeschränkt mit Notverordnungen, die er sich nachträglich vom Parlament mit dessen AKP-Mehrheit bestätigen lässt.

Über die Verfassungsreform will die AKP das Volk voraussichtlich im Frühsommer 2017 abstimmen lassen.

Yildirim sagte laut der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, der Präsident solle gemäß der Verfassungsreform auch den Entwurf für den Haushalt der Regierung einbringen. Andere Gesetzesentwürfe sollten weiterhin vom Parlament kommen. Die Einzelheiten würden in dem Entwurf für die Verfassungsänderung dargelegt, der noch in dieser Woche dem Parlament vorgelegt werden soll. Außerdem solle der Präsident künftig einer Partei angehören dürfen. Bisher schreibt die Verfassung ihm parteipolitische Neutralität und weitgehende Repräsentationsaufgaben vor, woran sich Erdogan freilich schon bisher nicht gebunden fühlte. Doch noch fehlt ihm die legale Legitimation.

Als Geburtshelfer der neuen Verfassung fungiert die rechtsnationalistische MHP, deren Vorsitzender Devlet Bahleci vor dem Putschversuch das Präsidialsystem noch entschieden ablehnte. Doch hat er seine Meinung inzwischen geändert und ließ seine MHP die Verfassungsreform mit der AKP erarbeiten. Tatsächlich können die zwei konservativen Parteien das Vorhaben nur gemeinsam realisieren. Zwar verfügen sie auch zusammen über keine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Parlament. Doch mit den 316 AKP- und 40 MHP-Abgeordneten erreichen sie die nötige Zweifünftelmehrheit von 330 Stimmen, um ein Referendum einzuleiten.

Vizepräsidentschaft für Zustimmung versprochen

Warum Bahceli sich auf den Deal einlässt und damit letztlich seine eigene Partei schwächt, erklären gut informierte Kreise in Ankara damit, dass ihm Erdogan vermutlich die Vizepräsidentschaft versprochen habe. Erdogan und die AKP-Regierung versuchen bereits seit mehr als zwei Jahren, das bestehende parlamentarische durch ein autoritäres Präsidialsystem "nach türkischer Art" zu ersetzen, das weitgehend ohne demokratische Kontrollen auskommt, denen etwa der US-amerikanische oder der französische Präsident unterliegen. Erdogan erklärte mehrfach, das bestehende System behindere die Entwicklung der Türkei und müsse deshalb abgelöst werden.

Die zwei größten Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die prokurdische HDP, deren Führungsspitze unter dubiosen Terrorvorwürfen fast komplett inhaftiert ist, lehnen den Systemwechsel indessen entschieden ab. Sie sprechen von der Einführung einer "Einmannherrschaft" und befürchten eine noch weitgehendere Einschränkung demokratischer Rechte und Freiheiten. "Das Ergebnis wird Unterdrückung sein", sagte der CHP-Vizechef Haluk Koc in der vergangenen Woche.

Mehrheit für Änderung beim Referendum erwartet

Zwar zweifelt in Ankara kaum jemand daran, dass AKP und MHP im Parlament genügend Stimmen für die Einleitung eines Referendums aufbringen werden, das Vorhaben ist dennoch nicht ohne Risiken. In der MHP existiert ein Bahceli-kritischer Flügel, dessen Rebellion der Vorsitzende nur mit der dem Präsidenten ergebenen Justiz unterdrücken konnte. Rachegelüste könnten dazu führen, dass einzelne MHPler gegen das Referendum stimmen, zumal die weitgehende Entmachtung des Parlaments auch sie selbst betrifft.

Für das Referendum selbst sagen Umfragen eine stabile Mehrheit für die Verfassungsänderungen voraus. Präsident Erdogan konnte seine Popularität nach dem gescheiterten Putschversuch noch steigern; auch die verlustreichen Kriege in Südostanatolien und Syrien sowie der anhaltende Sinkflug der türkischen Lira konnten ihm bisher nichts anhaben. Trotzdem halten sich in Ankara hartnäckig Gerüchte, wonach er in der entscheidenden Phase bis zum Referendum nichts mehr dem Zufall überlassen und in Kürze den loyalen Ministerpräsidenten Yildirim durch einen noch loyaleren Mann ersetzen wolle: seinen Schwiegersohn Berat Albayrak, derzeit Energieminister.

Laut dem Verfassungsentwurf soll eine Übergangszeit bis 2019 gelten, wenn Präsident und Parlament gleichzeitig neu gewählt werden.

Erst anschließend soll die Befristung der Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten von jeweils fünf Jahren einsetzen. Dann könnte der 62-jährige Erdogan, der elf Jahre Ministerpräsident war, bevor er 2014 als erster Staatspräsident direkt vom Volk gewählt wurde, noch bis 2029 die Macht ausüben.