Vom Hundedieb zum erfolgreichen Roman-Autor und Uni-Professor.
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Nicht, dass er die Sache mit den Hunden bereuen würde. "Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben. Wir haben ja immer gut auf sie aufgepasst." Weil, es ging damals ja rein ums Überleben. Naja, ein bisschen zumindest. "Okay, es hat auch Spaß gemacht." Der Beruf des Schriftstellers hat, wie jeder andere, Vor- und Nachteile; einer der Vorteile besteht darin, dass man selbst seine Jugendsünden zu Geld machen kann, wenn man sie in Erzählungen verpackt, die sich verkaufen lassen. Wie eben die Sache mit den Hunden. "Wir waren meisten zu zweit oder dritt, meine Freunde und ich." Spanish Harlem aka El Barrio, ein Herbstnachmittag, irgendwann Anfang der Achtzigerjahre. Zwei Burschen, beide noch keine 15 Jahre alt, überschreiten die 96. Straße Richtung Süden, die Grenze zur angrenzenden Upper East Side. Ein Übergang von einer New Yorker Welt in die andere, zwischen dem von Latinos und Schwarzen dominierten Armenviertel und dem traditionellen Ghetto der weißen, wirklich reichen Bewohner der größten Stadt Amerikas. Ein paar Blocks die Lexington Avenue rauf, "nicht zu weit, falls etwas schiefgehen sollte".
Dabei ist es weder lange her noch sei der Sohn eines ecuadorianischen Kommunisten und einer schwer religiösen Mutter aus Puerto Rico der Einzige gewesen, der damals auf die Idee gekommen sei. "Es war eine andere Zeit, eine andere Mentalität." An ihrem Ziel angekommen, "meistens vor einer Bäckerei, oder vor einem Schönheitssalon", legen sich die Buben auf die Lauer. "In der Regel hat es keine zehn Minuten gedauert, bis eine Frau mit ihrem Hündchen daherkam, das sie nicht mit den Laden nehmen konnte und am Pfosten eines Straßenschilds angebunden hat. Wir warteten, bis wir sicher waren, dass sie in den nächsten paar Minuten nicht herauskommen würde. Dann musste alles ganz schnell gehen." Rüber über die Straße, die Schere ausgepackt, ein kurzes Wimmern und dann laufen, laufen, laufen, Richtung Norden, nach Hause, ins Barrio.
Spätestens an diesem Punkt hat der Zuhörer unwillkürlich das Bild hunderter Ivy-League-Studenten vor Augen, der Elite der amerikanischen Studentenschaft, die sich fragen, wie es der Herr Professor geschafft hat, Herr Professor zu werden. Und inwieweit das, was er in seinen Büchern schreibt, mit seinem Leben zu tun hat. Der Autor von "Bodega Dreams" (2000), das längst landesweit in den Kanon der Schul- wie Hochschulliteratur aufgenommen wurde, ein Hundedieb?
Ernesto Quinoñez ist sich dessen bewusst, und er hat eine kaum verhohlene, diebische Freude daran. Der Gedanke, dass es sich bei den Opfern um eine der Mütter oder Großmütter seiner Studenten handelt, ist nicht wirklich weit aus der Welt. Die 1865 gegründete Cornell University ist eine der altehrwürdigsten und prestigeträchtigsten Alma Maters der amerikanischen Ostküste. Nachdem der 43-Jährige dort
Mitte des vergangenen Jahr-zehnts zum Associate Professor für Literatur berufen wurde,
hat Quinoñez die meiste Zeit berufsbedingt in Ithaca in Upstate New York verbracht, die sie beherbergt.
Der Literatur-Star bleibt dem Latino-Viertel treu
Nachdem das mit der Assimilation in der Kleinstadt aber nicht so wirklich hinhaute und er zudem mithelfen wollte, seine in New York City lebende kleine Tochter aufzuziehen, hat er sich Ende der Zehnerjahre ein Apartment im afroamerikanisch dominierten Teil von Harlem gekauft. "Aber irgendwann möchte ich wieder ins Barrio zurückkehren. Ich gehöre hierher." Es wäre die Erfüllung eines der ultimativen Klischees: das des Täters, der immer wieder an den Tatort zurückkehrt, weil er nicht anders kann.
"Wir haben die Hunde nie länger behalten als vier, fünf Tage. Wir haben gut für sie gesorgt, sind Gassi gegangen, haben sie gefüttert. In der Zwischenzeit ist immer einer von uns rauf auf die Upper East, um Ausschau nach den Suchplakaten zu halten. Wir mussten nie lange darauf warten. Die Leute lieben ihre Viecher." Der Ablauf, der dann folgte, sei immer derselbe gewesen. "Wir haben die Nummer auf den Plakaten angerufen und einen Treffpunkt ausgemacht. Dann haben wir meinen kleinen Cousin rausgeläu-
tet. Der war damals gerade so zehn und ein ausgesprochen
süßes Kind. Für unsere Zwecke perfekt."
Zurück auf der Upper East Side trafen die Burschen ihre Opfer - die sie mit Geld überschütteten. "Naja, unsere Story klang glaubhaft: ,Ma’am, wir haben ihren Hund gefunden und geglaubt, dass er ein Streuner ist. Aber nachdem wir die Suchplakate gesehen haben, haben wir Sie natürlich sofort angerufen. Aber, Sie müssen verstehen: Unser Cousin hat sich in den Hund verliebt, er will ihn nicht mehr hergeben. Es würde ihm das Herz brechen.‘" Die Hundebesitzerinnen gaben sich ausnahmslos gerührt; so viel Ehrlichkeit und Mitgefühl, und das von diesen armen Kindern, die in diesem furchtbaren Slum leben müssen. Der Öffnung des Herzens folgte verlässlich die der Brieftasche.
Geschichte der USA ist Geschichte der Einwanderer
Und wieder ist da das Bild von den Cornell-Studenten, wie sie gebannt dasitzen und sich, widerwillig aber zwangsläufig, fragen: Der Mann, dessen Nachfolgeroman "Chango’s Fire" (2005) von namhaften US-Medien als "The great (Latin) American novel" abgefeiert wurde und dessen neues Buch "Taina", dessen Manuskript er soeben beim Verlagsriesen HarperCollins abgegeben hat, von den Rezensenten sehnsüchtig erwartet wird - ein Lügner und Betrüger? "Mir ist schon klar, dass sich damit viele schwer tun. Aber solche Geschichten sind halt ein Teil meines Lebens", sagt Ernesto Quinoñez.
Setzte sich Quinoñez in seinem Debüt noch mit dem Erbe der Vergangenheit und dem Gefühl der inneren wie äußeren Exilerfahrung junger Latinos auseinander, widmete er sich im Rahmen von "Chango’s Fire" dem uramerikanischen Thema der Verdrängung. "Mit jeder neuen Einwanderungswelle haben sich immer jeweils neue Konfliktlinien ergeben. Das zieht sich durch die gesamte Geschichte Amerikas."
Die Rahmenhandlung, innerhalb derer sich ein professioneller Brandstifter im Zusammenwirken mit einem alteingesessenen italienischen Mafioso - bevor die Puertoricaner und die Südamerikaner ab den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Spanish Harlem zu diesem machten, war das Viertel als Italian Harlem bekannt - anschickt, das Viertel vor den weißen Hipsterhorden zu bewahren, die einfach nicht kapieren wollen, was sie mit ihrer Ignoranz anrichten, verkaufte sich, wie sein Vorgänger, im sechsstelligen Bereich. Das im kommenden Frühjahr erscheinende Werk "Taina", von dem Auszüge bereits auf YouTube zu hören sind, wird nach dem Willen Quinoñez den Abschluss der Spanish-Harlem-Trilogie bilden - und das aus seiner Sicht letzte große Thema behandeln, unter dem die Latino-Community der USA mehr krankt als gesundet: die Religion.
Auseinandersetzungen sind Klassen-, nicht Rassenkampf
Seine eigenen Leute schonen, war noch nie Quinoñez’ Sache. Regelmäßig nutzt er seine Ausnahmestellung, um den vor allem für weiße Bildungsbürger kaum sichtbaren Rassismus aufzuzeigen, der innerhalb der US-Latinos herrscht. "Tatsache ist: Je dunkler die Hautfarbe, umso schwerer haben es die Leute. Egal, ob sie aus der Dominikanischen Republik, aus Ecuador oder aus Argentinien kommen. Das ist traurig, aber wenn wir uns ständig darüber beklagen, wie schlecht uns die weißen Amerikaner behandeln, sollten wir uns vielleicht auch selber an der Nase nehmen."
Dieser Tage ist in den USA freilich mehr die Rede von dem Einfluss, den die Latinos auf den Ausgang der Präsidentschaftswahl haben. Quinoñez pflegt eine realistische Sicht auf die Dinge: "Die Wahl Obamas war etwas, das die meisten von uns nie für möglich gehalten hätten, und wir müssen alles dafür tun, dass er im Amt bleibt. Trotz allem, was es objektiv zu kritisieren gibt. Auch wenn er davon ablenkt, dass es sich bei den politischen Auseinandersetzungen in den USA nicht um einen Rassen-, sondern immer um einen Klassenkampf geht. Das haben die Europäer seit langem kapiert, aber hierzulande wird das noch dauern."
In diesen Kontext würden sich auch die Hundstage einordnen lassen. "Obwohl wir das damals natürlich nicht so sahen: Das
war im Grunde ein politischer Akt. Wir wohnten in Häusern,
in denen es manchmal kein warmes Wasser und keinen Strom gab. Den Hunden auf der Upper East Side ging es besser als
uns. Bereuen? Es gibt nichts zu bereuen."