Wem nützen all die abstrusen Welterklärungen?
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Es ließ nicht lange auf sich warten. Kaum war Corona als neue Bedrohung im Bewusstsein der Leute angelangt, erfuhr man in den digitalen Netzwerken, von Blogs und auch aus Druckwerken: Die Chinesen sind’s in ihren Laboren und Hexenküchen oder der Mossad, wieder einmal, in genialer Kooperation mit der CIA und sonst noch ein paar kreativen Schurken mit unbegrenzten Finanzmitteln, Weltbeherrschungsfantasien und Know-how in neuesten Technologien.
Solche Welterklärungsversuche als Verschwörungstheorien abtun zu wollen, greift zu kurz. Zum einen sind es keine Theorien in wissenschaftlichem Sinne, sondern allenfalls Hypothesen, eher Fantasien oder Wunschvorstellungen. Zum anderen schreiben Zeitungen aller Niveaus dagegen an, und die Wirkung ist bloß, dass sie sich vervielfältigen. Durch Beweise, Sachargumente und Logik sind sie nicht zu entkräften, schon gar nicht, wenn die übliche Prise Hohn beigemischt ist, mit der solche Widerlegungen gern garniert werden.
Auf den Anti-Corona-Demos laufen Viren- und Klimaleugner Hand in Hand, Impfskeptiker gesellen sich zu 5G-Gegnern, das volle Spektrum der Rechtsextremen marschiert auf, Antisemiten sowieso, Esoteriker und Reichsbürger sind auch schon da . . .
Welcher Kit kann solch unheimliche Allianzen zusammenschmieden? Vielleicht sollte man einmal das Pferd am Schwanz aufzäumen, das Thema von hinten aufrollen und die alte Frage stellen: Cui bono? Wem nützen diese Deutungsversuche, denen gemeinsam ist, dass sie das Vordergründige in sein Gegenteil verkehren und das Unwahrscheinlichste zum Geheimwissen für Eingeweihte verklären?
Bald zwei Jahrzehnte lang (seit 9/11) waren Muslime die Hauptverdächtigen in den gängigsten Verschwörungsideologien. Mit Kampfbegriffen wie "politischer Islam" und "islamistischer Terror" wurden sie in der einschlägigen politischen und medialen Kommunikation nach jedem Attentat als Kollektiv attackiert und als größte Bedrohung für das Abendland herbeifantasiert.
So war es auch bei dem jüngsten Anschlag in Graz, wenn auch leiser als noch vor kurzem, denn inzwischen hat die Coronavirus-Pandemie den Islam als Schrecknis deutlich in den Schatten gestellt. In jeder Ecke scheinen Viren auf einen neuen Wirt zu lauern, und in solcher Gefahrenlage schenkt nur der Babyelefant zwischendurch ein bisschen Trost und Heiterkeit, bedient das Kindchenschema, verbreitet mit seinem Kuscheltierkitsch inmitten des Horrors eine heimelige Atmosphäre.
Vielleicht unterstützen die Verschwörungserzählungen genau jene Distanzierung, die der Bevölkerung ständig abverlangt wird, im Gesellschaftlichen wie im Räumlichen, vulgo Social Distancing. In Zeiten komplexer Unentschiedenheiten verleihen sie simple Gewissheiten. Was die Seuchenbekämpfungsmaßnahmen der Regierung im Großen, können die Verschwörungsmythen im Persönlichen sein, nämlich psychohygienische Maßnahmen zur Abwehr von Unerträglichem. Solange sich die absonderlichen Ideen ebenso schnell verbreiten wie die Viren, ist auch ein Anker da zum Festhalten. Insofern verschaffen sie eine Linderung des Leidens, ebenso wie der kitschige Babyelefant.