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Dabei findet gleichzeitig eine Verdrängung statt: Wir versuchen, den Balkan aus unserem Bewusstsein zu verdrängen. Daraus entsteht eine eigentümliche schizophrene Situation. Vor geraumer Zeit fanden die Verhandlungen über die Zukunft des Kosovo in Wien statt. Für viele Politiker von Südosteuropa sind die Österreicher die erste Anlaufstation, weil man vermutet, dass wir von ihrer Situation mehr verstehen. Für die Wirtschaft unseres Landes ist der Balkan eine Erfolgsstory. Österreichische Unternehmen verdienen blendend - aber Herr und Frau Österreicher schauen weg!
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Dramatisiert wird die Lage dadurch, dass der Bevölkerungsschwund durch Zuwanderung vor allem aus dieser Region kompensiert wird, wobei wir uns gleichzeitig auch einen gewissen Aggressionspegel gegen die leisten, die in unseren Krankenhäusern, in der Altersfürsorge, auf den Baustellen und in Wirtshäusern wesentliche Beiträge dazu leisten, dass die Wirtschaft floriert. Das geht sogar noch weiter: In diesen Ländern hat sich eine für die Transformation typische Oberschicht entwickelt, die außerordentlich gut verdient und ihr Geld im Urlaub in Österreich ausgibt.
Es ist zu befürchten, dass unsere politische Vorstellungswelt in Österreich mit der neuen Geographie des Kontinents nicht Schritt hält. Wer gibt sich Rechenschaft darüber, dass die Stabilität in Südosteuropa eine wesentliche Voraussetzung für unsere eigene ist? Natürlich haben wir einiges gemacht, aber richtig interessiert das niemanden. Die Bereitschaft, die Sprachen der Nachbarn zu lernen, ist gering, die Kenntnis der Geschichte, der Landschaft und der Kultur geht nie unter die Oberfläche.
Die Generation meiner Eltern hatte noch durch den Thronfolgermord in Sarajevo eine bestimmte Vorstellung vom Balkan, die auch keine angenehme war. Vergessen ist allerdings, welche kulturellen Leistungen Österreich gerade in Bosnien-Herzegowina vollbracht hat, vergessen ist auch, welche Rückkoppelungen dadurch entstanden sind. Wer etwa das späte Werk Heimito von Doderers kennt, wird in den "Wasserfällen von Slunj" dieser Welt begegnen.
Dabei gibt es ein großes Interesse an dieser Region. Das Institut für den Donauraum und Mitteleuropa führt einen Balkanstudienlehrgang, in dem man den eigenartigen Titel "Balkanologe" gewinnen kann. Die Nachfrage ist unendlich groß, weil viele Menschen, die dort wirtschaftlich eine Zukunft sehen, auch eine Kenntnis dieser Region haben wollen. In dem Sinn wäre "Balkanologie" in den Medien wünschenswert. Gleichfalls hat die Region eine große Bedeutung im Bereich von Wissenschaft und Forschung. Heute gibt es etwa an der Universität Graz ein Südosteuropazentrum, das wirklich ein "Center of Excellence" ist.
Auf der beschämenden Seite steht, dass wir im Bereich der Infrastruktur nicht allzu viel getan haben. Das fängt mit der Donau an, die in der Entlastung des Straßengüterverkehrs eine entscheidende Rolle spielen könnte. Es gibt zwar den "Danube Cooperation Process", aber die Dynamik lässt zu wünschen übrig. In Wahrheit ist aber Wien-Schwechat bis heute der wesentliche Verbindungspunkt in diese Region. Wir müssen endlich begreifen, dass wir nach 1989 aus einer Randlage der freien westlichen Welt mitten in den Kontinent hineinverschoben wurden. Das ist sehr schön, darüber kann man sich freuen, das beinhaltet aber auch Verpflichtungen.
Längst ist der Balkan kein Pulverfass mehr, wie man das vor einiger Zeit noch behaupten konnte. Er ist in Wahrheit eine Region, die ein Mehr an Zuwendung durch Österreich verträgt und braucht. Wir Österreicher fordern gern mehr von Europa. Hier ist aber Österreich gefordert, durch den Balkan Europa mehr zu geben.