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Der Baustein des Universums

Von Eva Stanzl

Wissen

Ohne Higgs-Feld kein Universum, keine Schwerkraft und kein Leben.


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Genf/Wien. Durch den Raum zieht die selbstsichere Freude, die Menschen verströmen, deren Bemühungen sich soeben bestätigt haben. "Wir haben das Higgs-Teilchen gefunden", sagt ein strahlender Wolfgang Waltenberger vom Österreichischen Institut für Hochenergiephysik (Hephy). Der junge Physiker und 50 bis 60 seiner Kollegen verfolgen von Wien aus die Live-Übertragung aus dem Europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf. Mit Sekt als Belohnung bejubeln sie die Ergebnisse, die auch die Früchte ihrer Mitarbeit sind.

Laut den beiden unabhängig voneinander messenden Detektoren am Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider), "CMS" und "Atlas" wurde das seit über 40 Jahren gesuchte Higgs-Teilchen bei einer Masse von rund 125 bis 126 Gigaelektronenvolt (GeV) entdeckt, und zwar "mit einer statistischen Signifikanz von fünf Standardabweichungen (5 Sigma)", gab das Cern am Mittwoch Vormittag bekannt. Das bedeutet, dass die Chance nur mehr sehr gering ist, dass es sich bei den beobachteten Signalen ausschließlich um statistische Schwankungen handelt.

"Wenn es aussieht wie eine Ente, watschelt wie eine Ente, quakt wie eine Ente, wäre es schon viel Pech, wenn es nach Fisch schmeckt", fasst der theoretische Physiker Wolfgang Lucha vom Hephy vor Journalisten den Stand der Dinge beim Nachweis des Higgs-Teilchens zusammen.

"Durch die Entdeckung wurde ein neues Fenster zum Verständnis des Aufbaus unseres Universums aufgestoßen", sagte Hephy-Direktor Christian Fabjan, der dem CMS-Experiment in Genf vorsteht. Für den stellvertretenden Direktor Manfred Krammer, handelt es sich um eine "fundamentale Erkenntnis" und "sicher eine der wichtigsten Entdeckungen" in den vergangenen Jahrzehnten.

Das masselose Universum kurz nach dem Urknall

Wie im CERN geforscht wird.

Im LHC simulieren Wissenschafter die Vorgänge kurz nach dem Urknall, indem sie Elementarteilchen mit enormer Geschwindigkeit aufeinanderprallen lassen. In den Spuren der Kollisionen suchen sie nach Hinweisen, die Aufschluss über die Anfänge des Universums geben. Der Theorie zufolge zerfallen bei Kollisionen nahe der Lichtgeschwindigkeit die Elementarteilchen in verschiedene Kanäle, in denen danach nach Spuren der Teilchen gesucht werden kann.

Doch warum haben die Forscher so lange gerade nach dem Higgs-Teilchen gesucht? Um wie viel mehr wissen wir jetzt?

Teilchenphysiker gehen davon aus, dass Elementarteilchen in den ersten Milliardstel-Sekunden nach dem Urknall zunächst masselos waren und mit Lichtgeschwindigkeit herumgesaust sind. "Zu einem bestimmten Zeitpunkt kurz nach dem Urknall gab es nur die kleinsten bekannten Bausteine der Materie - sechs Quarks, sechs Leptonen, die Eichbosonen (Austauschteilchen) und das Higgs-Boson", so Krammer. Noch bis Dienstag bestätigte allerdings kein Physik-Schulbuch, wie die Teilchen sich zu Masse formierten.

1964 hatte der britische Physiker Peter Higgs die Idee eines theoretischen Mechanismus, durch den die zunächst masselosen Teilchen in Wechselwirkung mit einem Hintergrundfeld, dem Higgs-Feld, Masse gewinnen. Um den Mechanismus auch für Laien verständlich zu machen, vergleichen Physiker ihn gerne mit einer Party, auf der ein Popstar erscheint. Die Partygäste bilden das Higgs-Feld. Will der Popstar den Raum durchqueren, scharen sich sofort Fans bei der Party um ihn und lassen ihn damit langsamer fortkommen - der Star gewinnt dieserart an Masse.

Erst durch die Interaktion mit dem Higgs-Energiefeld bekamen die Elementarteilchen Masse und konnten dadurch schließlich das Universum bilden. Erst durch die Masse entstand die Schwerkraft und entstanden schließlich die Sonne und die Planeten. "Ohne Higgs-Feld gäbe es keine Elementarteilchen mit Masse, kein massehaftes Universum, kein Leben und keine Menschen", streicht Krammer hervor. Und ohne Higgs-Feld gäbe es kein Higgs-Teilchen. Das Teilchen ist eine Folge des Mechanismus, seine Entdeckung wie ein Fußabdruck.

Die ernsthafte Suche nach dem Higgs-Boson begann in den 1980er Jahren, als die Großforschungsanlage Fermilab in dem inzwischen stillgelegten Teilchenbeschleuniger Tevatron nahe Chicago eröffnet wurde. In einer ähnlichen Anlage wurde bald darauf am Cern nach dem Higgs gesucht. In die heiße Phase trat die Fahndung dort aber erst 2010, als der neue Beschleuniger LHC in Betrieb genommen wurde. Die Suche nach dem Higgs gehört zu den zentralen Aufgaben der gigantischen Anlage (siehe Bericht links unten).

Untersuchung des Teilchens als neues Gebiet der Physik

Die am Mittwoch präsentierten Daten geben einen eindeutigen Hinweis auf ein Teilchen, das 30 Mal schwerer als ein Proton (ein Proton bildet zusammen mit einem Neutron einen Atomkern, Anm.). Es sei damit "sehr massiv" und "ein echter Hinweis auf das Higgs-Feld", so Krammer.

Dennoch geben sich die Physiker vorsichtig. "Alle Messungen bisher sind kompatibel mit dem Standardmodell der Teilchenphysik. Aber wir benötigen weitere Bestätigungen, um sicher zu sein, dass es wirklich das Standardmodell-Higgs ist. Etwa weiß diese Theorie, in welchen Kopplungsstärken es mit anderen Teilchen wechselwirkt. Doch ob alle Teile der Theorie tatsächlich mit den Resultaten der Kollisionen übereinstimmen, muss sich erst weisen", erklärt Lucha.

Die Untersuchung des Bosons im Detail ist ein neues Gebiet der Physik. "Die meisten Theoretiker bevorzugen das einfachste Higgs-Modell mit einem neutralen Teilchen. Eine andere Theorie erwartet aber zusätzlich ein positiv und ein negativ geladenes Teilchen, oder es werden Teilchen mit anderen Eigenschaften angenommen", sagt Krammer. Um welches Higgs es sich handelt, bleibt herauszufinden. Hinzu kommt, dass das Standard-Modell der Teilchenphysik nicht die gesamte Natur erklärt. Das Standardmodell funktioniert nämlich nur bis zu einer gewissen Energie: Knapp nach dem Urknall bei bis zu einigen hundert Giga-Elektronenvolt stimmt es. Aber ab einem gewissen Energiebereich bricht es zusammen. "Es muss daher eine darüber liegende Theorie geben", so der stellvertretende Hephy-Chef.

Die Supersymmetrie-Theorie (Susy) verlangt, dass es zu jedem Teilchen noch ein supersymmetrisches Teilchen gibt, so wie Materie und Antimaterie. Das leichteste supersymmetrische Teilchen könnte das bisher ungelöste Rätsel der Dunklen Materie erklären. Zudem beinhaltet die Susy-Theorie ebenfalls ein Higgs-Boson.

"Ich bin überrascht, wie schnell es gegangen ist"

Ob sich das Nobelpreis-Komitee im Herbst von den ungelösten Fragen von einem Preis abhalten lässt, bleibt abzuwarten. In der Regel werden Nobelpreise für vollständig bewiesene Theorien vergeben. Peter Higgs zeigte sich jedenfalls am Mittwoch in Genf überrascht über die Entdeckung des Teilchens. Er hätte nie gedacht, dass er das noch erleben würde, sagte der 83-Jährige in einem Interview des Cern: "Ich bin überrascht, wie schnell es gegangen ist. Damals, im Jahr 1964, hatte man ja noch gar keinen Ansatzpunkt, wo man suchen sollte."

Der junge Physiker Wolfgang Waltenberger hätte sich hingegen weniger Eindeutiges gewünscht, als dass die Hinweise "doch sehr mit dem Standardmodell übereinstimmen. Am liebsten wäre uns eine kleine Diskrepanz gewesen, die kompatibel mit Extra-Dimensionen wäre oder Susy bestätigen würde", sagt er. Eine Brücke zu einer neuen Form der Physik ist die Entdeckung des Higgs-Teilchens also nicht. "Unser Universum besteht nur zu vier Prozent aus Materie, der Rest ist Dunkle Materie und Dunkle Energie", betont Krammer. Im Cern steht noch jede Menge Arbeit bevor. Die Physiker werden also wohl nicht darum herumkommen, im Teilchenbeschleuniger auch Dunkle Materie zu erzeugen.