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La Palma, Kanarische Inseln. Der Vulkan Cumbre Vieja bricht aus. Die instabile Westflanke des Vulkans rutscht ab. 500 Kubik-Kilometer Gestein ergießen sich ins Meer und verdrängen Unmengen von Wasser - das sich immer höher auftürmt. Da der Aufprall mit einem derart hohen Tempo erfolgt, kann das Wasser nicht einfach über das Gestein zurückfluten. Es bildet sich eine riesige Luftblase, die weit mehr Wasser verdrängt als das Gestein selbst. Riesenwellen, die mit Flug- | geschwindigkeit über den Atlantik rasen, sind die Folge. Nach einer Stunde trifft eine 100 m hohe Welle auf die afrikanische West-Sahara-Küste. Sechs bis acht Stunden danach überschwemmt eine 40 bis 50 m hohe Riesenwelle die Karibik sowie die Ostküste der USA zwischen New York und Miami.
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Was wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm a la Hollywood aussieht, könnte bald Wahrheit werden. Wenn nämlich der kanarische Vulkan wirklich ausbricht und seine Westflanke in die Tiefen des Atlantiks herabstürzt.
Noch stammt die Horrorszenerie aus dem Computer von Dr. Steven Ward. Der Geologe von der University of California in Santa Cruz hat seinen Rechner mit den Daten des wohl weltweit gefährlichsten Vulkans gefüttert. "Die Energie, die durch den Kollaps des Berges ausgelöst würde, entspräche etwa der Energiemenge, die in den gesamten USA im Zeitraum eines halben Jahres verbraucht wird", sagt Ward. Sein Computer-Modell lässt keinen Zweifel daran, dass ein Ausbruch von Cumbre Vieja einen Mega-Tsunami auslösen könnte, der Städte wie New York und Miami zerstören und das Leben von Millionen Menschen bedrohen würde.
Kilometerlanger Riss an der Westseite
Der Geologe Dr. Simon Day vom Benfield Greig Hazard Research Center in London hat die Gefahr als erster erkannt. Er entdeckte einen vier Kilometer langen, tiefen Riss an der Westseite von Cumbre Vieja - entstanden nach dem letzten großen Ausbruch im Jahre 1949. Teile des Vulkans sanken damals bis zu vier Meter Richtung Meer ab.
Zusammen mit spanischen Geologen ist Day der Meinung, dass mit der nächsten Eruption die Westflanke vollends wegbrechen könnte. Der Grund: Einige Gesteinsschichten enthalten extrem viel Wasser. Steigt nun Magma in den Vulkanschlot, müsste dieses Wasser verdampfen - und einen enormen Druck auf die instabile Vulkanhälfte ausüben. "Ein gigantischer Erdrutsch wäre die Folge", sagt Day.
"Unklar ist allerdings ob das in zehn, hundert, tausend oder noch mehr Jahren passiert." Außerdem hat sich die Westflanke in den letzten 40 Jahren nicht mehr bewegt. "Also kein Grund, in Panik zu verfallen", beruhigt Day Kanarenurlauber und -einwohner. "Das kurz- und mittelfristige Risiko eines Ausbruches ist sehr gering."
Im Unterschied zu Wellen, die vom Wind erzeugt werden, bewegen Tsunamis das Wasser bis zum Meeresgrund. Sie können Wellenlängen bis zu 100 Kilometer erreichen. Auf hoher See macht sich ihre gigantische Energie aufgrund ihrer enormen Wellenlänge und einer recht geringen Wellenhöhe kaum bemerkbar. Deswegen bleiben auch die auf einer Riesenwelle schwimmenden Schiffe meist unbeschädigt.
Vernichtende Kräfte, wo natürlicher Schutz fehlt
"Doch wehe, wenn sie auf Küsten treffen, die nicht durch eine Hunderte von Kilometer vorgelagerte Kontinentalplatte oder andere geologische Strukturen wie Inselgruppen oder Riffe geschützt sind. Dann können die Riesenwellen eine vernichtende Kraft entwickeln", weiß der Schweizer Hermann Fritz von der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ). "Nähern sich die Wellen der Küste, reduziert sich die Wellengeschwindigkeit, die Wellenkämme rücken näher zusammen und die Welle staucht auf. Sie wird immer höher und damit zugleich auch immer steiler. Am Ufer angekommen, können die Wellenauflaufhöhen ein Vielfaches der ursprünglichen Wellenhöhe betragen", erklärt Fritz.
650 m Wellenhöhe mit radialer Ausbreitung
Unter der Leitung der schweizer Professoren für Wasserbau Hans-Erwin Minor und Willi Hager lässt Fritz mittels eines neuartigen Rutschgenerators Berghänge in ein 11 Meter großes Becken im Labor stürzen. Mit modernster Lasermesstechnik werden dann Strömungsfelder, Geschwindigkeiten, Verdrängungsvolumina, Energieumwandlung und die Höhe der daraus resultierenden Wellen gemessen. Im schlimmsten für den Cumbre Vieja zu erwartenden Fall hat Fritz eine Wellenhöhe von 650 Metern in unmittelbarer Nähe der Kanareninsel errechnet.
"Im Gegensatz zu Erdbeben, die auch einen Tsunamie auslösen können, sind Bergstürze und Erdrutsche allerdings als Punktereignisse zu betrachten", sagt Fritz. "Deshalb breitet sich die durch ein solches Ereignis ausgelöste Welle auf dem Weg über den Atlantik radial aus. Entsprechend nimmt der Umfang des Wellenkamms proportional zur Ausbreitungsdistanz zu und die Wellenhöhe ab. Die Energie verteilt sich und die Riesenwelle würde an der amerikanischen Ostküste wesentlich niedriger ankommen als in unmittelbarer Nähe ihres Entstehunszentrums", schwächt Fritz die schlimmsten Prognosen der drohenden Naturkatastrophe ab.
Den wenigen Tsunami-Forschern fehlt es an Erfahrungen mit vergleichbaren Mega-Wellen. Einige Anhaltspunkte aus der Geschichte der Menschheit haben sie allerdings. Und die verheißen nichts Gutes: Der 1741 in Japan explodierte Vulkan Oshima-Oshima zum Beispiel oder das 1888 auf Neu Guinea kollabierte Ritter Island verursachten immerhin 30 Meter hohe Wellen. Und Schäden wurden damals noch aus 1.000 Kilometer Entfernung von der Absturzstelle gemeldet.
Doch diese Katastrophen unterscheiden sich beträchtlich vom Cumbre Vieja: Die abgerutschte Erde betrug lediglich ein Prozent der Gesteinsmasse, die der Vulkan auf La Palma lostreten würde. Ward und Day sind deshalb beide davon überzeugt, dass Cumbre Vieja die größte Naturkatastrophe der Menschheitsgeschichte auslösen könnte. "Da wir kaum eine dieser Mega-Katastrophen je erlebt haben, glauben wir nicht, dass sie uns zustoßen könnten", sagt Ward. Und genau das ist das Problem: "Wir ignorieren diese Ereignisse - aber sie traten in der Vergangenheit immer wieder auf."
Frage ist nicht ob, sondern wann. . .
Zeugnisse dafür sind die immer wieder in den Ablagerungen der Erdgeschichte vorkommenden sogenannten Tempestite. Diese durcheinandergewirbelten Sedimente ehemaliger Meeres- und Küstenregionen geben Aufschluss über die verheerende Kraft von Riesenwellen lange bevor die Menschheit existierte. "Und sie werden nicht einfach nur deshalb ausbleiben, weil wir nun da sind. La Palma wird höchstwahrscheinlich eines Tages auseinanderbrechen und in den Atlantik stürzen. Die Frage ist nicht ob, sondern nur wann," ist sich Ward sicher.
Die Statistik unterstützt die Warnungen der Geologen: Seit 1949 sind mehr Menschen durch Tsunamis getötet worden als direkt durch Erdbeben. Ein "normaler" Tsunami mit Wellen bis 15 Meter ließ 1998 auf Papua Neuguinea 2.200 Inselbewohner ertrinken. Und erst im Juni diesen Jahres starben in Peru mehrere Dutzend Menschen nach einem durch ein Erdbeben ausgelösten Tsunami. Deswegen fordert der Entdecker des Risikovulkans Simon Day auch eine ständige Überwachung der Aktivitäten des Cumbre Vieja. "Nur so können wir mögliche Evakuierungsmaßnahmen rechtzeitig einleiten", warnt der Brite.
Übrigens: Auch eines der schönsten kanarischen Wandergebiete, Caldera de Taburiente auf La Palma, verdankt seine Entstehung einem Vulkan. Es befindet sich in einem der größten Krater der Welt.