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Österreichs Schulsystem steht vor der Einführung verbindlicher Leistungsstandards für bestimmte Schulstufen. Die Wiener Bildungspsychologin Christiane Spiel, Mitglied der Zukunftskommission des Bildungsministeriums, begrüßt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" diesen Schritt, fordert aber, dass die Schule der Zukunft parallel zu lebenslangem Lernen motivieren und die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen fördern muss.
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"Schule neu denken" lautete die Aufgabe der Zukunftskommission, die dem Ressort von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer Vorschläge für die künftige Gestaltung des Bildungswesens präsentieren sollte. Eine bereits sehr weit gediehene Idee betrifft die Einführung von Leistungsstandards, also die Festlegung davon, was eine Schülerin oder ein Schüler in einer bestimmten Schulstufe in einem bestimmten Fach auf jeden Fall können sollte.
Die Wiener Psychologin Christiane Spiel, seit dem Jahr 2000 als ordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Psychologie der Universität Wien mit der Leitung des Arbeitsbereichs Bildungspsychologie und Evaluation betraut, seit wenigen Wochen auch Dekanin der neuen Fakultät für Psychologie, gehört der Steuerungsgruppe der Zukunftskommission des Bildungsministeriums an.
Überall der gleiche Kernstoff
Sie weist darauf hin, dass die Leistungsstandards grundsätzlich wichtig und richtig sind: "Standards garantieren, dass überall der gleiche Kernstoff unterrichtet wird, dass es keine Rolle spielt, ob mein Kind in diese oder eine andere Schule geht, dass es gleiche Beurteilungsmaßstäbe gibt, und damit auch, dass wir uns auf gemeinsame Ziele für die Schülerinnen und Schüler geeinigt haben. Darauf aufbauend kann auch ein System-Monitoring eingerichtet werden, um zu sehen, wie Österreichs Schulen im inneren Vergleich dastehen und wie im Vergleich mit anderen Ländern. Das ist sinnvoll, alle Länder gehen in diese Richtung."
Selbst verantwortlich lernen
Allerdings sieht sie in der Einführung der Standards auch die Gefahr, dass eine andere wichtige Zielsetzung zu wenig beachtet wird: "Wir brauchen die Kompetenz zum Lebenslangen Lernen (LLL), denn wir werden uns in immer kürzerer Zeit auf wechselnde wirtschaftliche Bedingungen einstellen und häufiger den Beruf wechseln müssen. Dazu gehören sowohl Bildungsmotivation als auch die Fähigkeit, selbst gesteuert und selbst verantwortlich zu lernen." Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um das abprüfbare Ergebnis einer Lernhandlung, sondern auch um den Prozess, der zu Lernerfolgen führt — oder nicht führt. Ein Vergleich aus dem Sport: Standards bedeuten, dass man Leuten beibringt, Hürden von einer ganz bestimmten Höhe zu überspringen; LLL wäre nicht Drillen auf eine bestimmte Sprunghöhe, sondern auf Motivation und Kompetenzen im Umgang mit Hindernissen ganz allgemein.
Für Spiel konvergieren diese beiden Anforderungen nicht automatisch, sondern sind ergänzend zu sehen. Wir brauchen sehr wohl Basiskompetenzen in zentralen Fächern wie Mathematik, Deutsch, Englisch etc., aber auch jene Schlüsselqualifikationen, die selbst gesteuertes Lernen ermöglichen.
Vorbild Finnland
Das Argument, dass die Kompetenzen für lebenslanges und selbst reguliertes Lernen, für Lernstrategien und Präsentationstechniken schwerer messbar sind, lässt die Psychologin nicht gelten: "Man kann das alles messen. Es ist nur ungewohnter. Ich sehe jedoch die Gefahr, dass Eltern glauben könnten, nur das, was leicht über die Standards messbar ist, ist das Wichtige. Das Spannende ist, dass Finnland, das führend in der Pisa-Studie ist, keine verbindlichen Standards hat. Dort wird auf die Selbstverantwortlichkeit der Schulen gesetzt."
Lehrer stark einbinden
Ob die von manchen Seiten geäußerte Sorge berechtigt ist, dass nur noch auf die Standards hingearbeitet wird, hängt für Spiel davon ab, wie die Standards in die Schulen eingeführt werden: "Damit es sinnvoll greift, müssen Lehrer und Lehrerinnen stark eingebunden sein. Dass sie zum Beispiel diese Standards hernehmen und sagen: Können wir nicht aufgrund unserer Erfahrungen zusätzliche Beispiele entwickeln? Ein Vorschlag von uns als Zukunftskommission lautete, die Standards so festzulegen, dass jeder sie schaffen sollte. Dafür sollten etwa zwei Drittel des Unterrichts aufgewendet werden. Die restliche Zeit ist dazu da, dass die Lehrperson selbst Schwerpunkte setzt, aber auch die Interessen der Schüler aufnimmt. Das wird natürlich ein Kompromiss sein, weil ein Lehrer nicht auf die Interessen jedes einzelnen Schülers eingehen kann. Aber es sollte keinesfalls so sein, dass nur mehr die Standards trainiert werden."
Für eine Zentralisierung des Prüfungssystems, wie etwa in Frankreich, um die Einhaltung der Standards von außen zu kontrollieren, spricht sich Christiane Spiel nicht unbedingt aus. Sie sieht aber die Lehrperson grundsätzlich in einer problematischen Situation: " Auf der einen Seite soll sie den Schüler fördern, ist damit quasi mit ihm verbündet, auf der anderen Seite hat sie ihn zu beurteilen, was zu einem Rollenkonflikt führt, auch seitens des Schülers, der im Lehrer die Person sieht, die hilft, vor der er sich zugleich aber auch fürchtet, weil sie die Noten vergibt."
Auf jeden Fall plädiert die Bildungspsychologin dafür, bei Einführung der Standards auch über ein System-Monitoring nachzudenken. Wichtiger als herauszufinden, welche Schulen besser abschneiden, wäre es herauszufinden, warum eine Schule besser abschneidet als eine andere. "Man braucht Informationen über den Prozess und die Rahmenbedingungen, nicht nur über das Ergebnis."
Autonomie, Kontrolle, Stütze
Für Christiane Spiel sah die Zukunftskommission ihre primäre Aufgabe im Definieren von Zielen und erst in zweiter Linie in Überlegungen über die dafür nötigen Maßnahmen. (Das bereits vorgelegte Konzept der Zukunftskomission wurde inklusiver zahlreicher Reaktionen gestern und heute von Bildungsminister Elisabeth Gehrer diversen Experten präsentiert.)
"Wir haben das ohne politischen Einfluss gemacht. Wir haben nicht an Gesetze oder parteipolitische Ideen gedacht, sondern: Was ist das Beste für die Schüler? Eine zentrale Forderung lautet: Schule muss im Verantwortungsbereich des öffentlichen Systems bleiben, aber die Autonomie sollte gesteigert werden. Schulen sollen sehr frei handeln können, aber einer klaren Kontrolle unterliegen, ob die Ziele erreicht werden, und eine starke Stütze von außen bekommen, wenn sie plötzlich mit Standards arbeiten oder evaluieren sollen. Es muss ein Gleichgewicht von Autonomie, Kontrolle und Unterstützungssystem geben."
Eine häufig geforderte Maßnahme ist in ihren Augen wissenschaftlich nicht fundiert: "Es gibt den Mythos, dass kleinere Klassen zu einer besseren Unterrichtsqualität führen. Dafür existieren keine systematischen empirischen Belege."
Einfluss hat sicher die Lehrerausbildung, aber die wirkt nur sehr langfristig. Für Christiane Spiel ist dabei ein ganz wichtiger Punkt: "Möglichst früh angehenden Lehrpersonen vermitteln, was das Leitbild des Berufs ist, dass dazu organisatorische Aspekte gehören - es wäre mehr mittleres Management an den Schulen nötig -, die Bedeutung von Teamarbeit, die Anforderungen im Schulalltag."
Noch einmal kommt die Bildungspsychologin auf das gegenwärtige Musterland Europas zu sprechen: "Finnland legt sehr hohen Wert auf Lehreraus- und -weiterbildung. Das Lehramt hat einen viel höheren Stellenwert. Wer Schulleiter oder Schulleiterin werden will, muss zurück an die Uni und einen Aufbaukurs machen."
Versagen der Schule
Besonders wichtig erscheint ihr die Einstellung in Finnland: "Dort gilt ein Versagen eines Schülers als ein Versagen der Schule. Bei uns sind die meisten Lehrpersonen der Ansicht - wie wir aus einer eigenen Untersuchung wissen - dass sie beziehungsweise die Schule nichts für das Versagen von Schülerinnen kann. In Finnland wird besonders in die schwachen Schüler investiert. Das ist auch ökonomisch sinnvoll.
Wer eine Klasse wiederholt, verursacht dem Staat ein Jahr länger Kosten, fällt aus dem Klassenverband, wird aber in den Fächern, wo er oder sie schlecht ist, meist nicht zusätzlich gefördert."
Plädiert Christiane Spiel also dafür, dass es kein Durchfallen mehr gibt? "Das folgt daraus nicht automatisch. Aber wenn jemand nur in einzelnen Fächern schwach ist, bin ich dafür, dass er den Lehrstoff innerhalb einer bestimmten Zeit nachholen kann.
Schulen könnten dazu ein Stützungssystem einrichten, autonome Regelungen finden. Ich bin dagegen, dass alles vorgegeben wird. Zu viele Verordnungen führen dazu, dass man sich nicht verantwortlich fühlt."
Was der Bildungspsychologin Sorgen macht: "Der Ruf der Schule als Ort des Lernens, das Freude macht, sinkt. In der Volksschule ist es noch besser, am beliebtesten ist dort interessanterweise Mathematik. Die Kinder freuen sich, wenn sie etwas verstehen und anwenden können. Mit zunehmendem Alter sinkt diese Freude; dazu muss man sich Fragen stellen."