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Buben sind wild, laut und aggressiv. Mädchen sind lieb, brav und nett. Machen nur Umwelteinflüsse Kinder zu dem, was sie sind?
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Alle Kinder sollen sich in einer Reihe anstellen. "Ich bin der Erste", stellt der vierjährige Stefan klar und drängt sich in die Pole Position. Die gleichaltrige Mara lässt das kalt. Stolz stellt sie sich vor ihren Kindergartenkollegen und verkündet: "Ich bin die Erste". Klar ist: Beide haben Recht.
Bei Szenen wie diesen freut sich Karin Rosenlechner, Leiterin des ersten geschlechtssensiblen Kindergartens in Wien, über einen Erfolg. Sie legt Wert auf geschlechtergerechte Sprache, wodurch Handlungsspielräume erweitert werden. Auch wird dabei viel Mut demonstriert, der Mädchen den Klischees entsprechend oft aberkannt wird.
Dass Mädchen mutig sein dürfen und Buben wiederum hilfsbereit, wird heutzutage immer mehr gefördert, wiewohl Werbung, Fernsehen und auch Kinderbücher nach wie vor
Geschlechterstereotypen als Protagonisten bevorzugen.
Richtiges verhalten. Enorm ist der Einfluss der Umwelt, die Mädchen zu Mädchen und Buben zu Buben macht, erklärt Claudia Schneider vom Verein Efeu (Verein zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle). Schon mit drei Jahren haben Kinder genug Informationen gesammelt, wie sich Frauen und Männer richtig zu verhalten haben.
Das Ergebnis: Lautstark sausen die Buben durch die Gruppenräume oder konstruieren in der Bauecke die höchsten Legotürme. Mädchen sitzen und basteln oder kümmern sich in der Puppenecke liebevoll um ihre Babys.
Liegen jedoch Verhaltensformen auch in der Natur des jeweiligen Geschlechts? Ja, stellt der Wiener Ethologe Karl Grammer fest. "Es gibt keine Natur ohne Kultur und keine Kultur ohne Natur." Demnach sind Verhaltensmuster sowohl von der Genetik als auch von der Umwelt beeinflusst. Viele Verhaltensunterschiede seien allerdings auch kulturell unveränderlich, betont Grammer. So sind Mädchen überwiegend mehr sozial interessiert als Buben.
Wissenschafter wie Grammer gehen davon aus, dass - wie bei Mäusen erwiesen - auch beim Menschen bereits in der zweiten bis sechsten Schwangerschaftswoche bestimmte Hormone in Form einer Blaupause typische spätere Verhaltensweisen einprägen, die sich schließlich in der Pubertät in voller Ausprägung präsentieren.
Farbentag. Es ist Farbentag im Kindergarten fun&care. Rosa steht auf dem Programm und alle Kinder sollen dem Motto entsprechend gekleidet sein. Die meisten Mädchen stehen auf Rosa, was von der Industrie zudem noch im Übermaß forciert wird. Für die meisten Buben bedeutet dies hingegen Zähne zusammenbeißen, ist das doch eine richtige Mädchenfarbe. Erst die Gruppendynamik veranlasst manche Buben, doch das mitgebrachte und von der Mama vorerst in der Garderobe deponierte Leibchen überzuziehen.
Es sind aber nicht nur Farbe und Sprache, in denen sich die zwei Geschlechter unterscheiden. Mädchen sollen lernen, sich den Platz zu nehmen, den sie brauchen, Bedürfnisse und Abneigungen zu artikulieren und offensiv auf etwas zugehen, erklärt Rosenlechner. Auch sollen sie sich Fertigkeiten in der Technik, beim Werken und am Computer aneignen.
Buben soll es nicht peinlich sein, Gefühle zu zeigen oder ein fürsorglicher Puppenvater zu sein. Auch geht es darum, Konflikte auf andere Art als mit Schreien und Hinhauen austragen zu können.
Herausforderung. Das Ziel der geschlechtssensiblen Pädagogik ist, "allen in Bildungssituationen Beteiligten eine größtmögliche Entfaltung persönlicher Interessen zu ermöglichen - ohne auf Geschlechterstereotype zu setzen", erklärt Schneider. Sie sieht in diesem Schritt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Benachteiligungen sieht sie etwa, wenn eine Lehrerin in einer Klasse drei Buben aufruft, weil schwere Tische zu tragen sind. Auch mangelt es oft an der Ausstattung: Die meisten Schulsportplätze sind geteilt, sagt Schneider. Für Buben gibt es etwa Fußball, Hochsprung und Kugelstoßen. Mädchen müssten sich meist mit Volleyball auf dem weniger attraktiven Teil der Anlage begnügen.
Männer in der Pädagogik. Mit Unterstützung sollten jedoch allen alle Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten zugänglich gemacht werden. Und dazu brauche es auch Männer in der Pädagogik, betont der Sozialpädagoge Olaf Kapella vom Österreichischen Institut für Familienforschung. Zwar könnten Frauen die Arbeit genauso qualitativ machen, doch sollten Kinder Männer auch in einer professionellen und emotionalen Rolle erleben.
Zwar glaubt Kapella nicht, dass Kinder - vor allem Buben - ohne direkte männliche Betreuung Defizite haben, doch würden Männer eine gute Ergänzung darstellen.
Allerdings erweise es sich in Österreich als ziemlich schwierig, Männer zu finden, klagt Rosenlechner. Und die Zahlen sprechen für sich: Der Anteil an männlichem qualifiziertem Fachpersonal in Kindergärten hat im Jahr 2005/2006 in Österreich (ohne Steiermark, denn hier stehen keine Daten zur Verfügung) laut Statistik Austria ganze 0,6 Prozent - in absoluten Zahlen 74 Personen - betragen.
Frauendomäne. Einer jener ist der 24-jährige Pädagoge Florentin Döller. Er ist seit einem Jahr im Kindergarten fun&care tätig und freut sich, mit den Kindern arbeiten zu können. Von seiner Umwelt hat er angesichts der Tatsache, sich in einer Frauendomäne zu befinden, durchwegs positive Reaktionen erfahren. Niemand hätte gefragt: "Was machst du als Mann im Kindergarten?" Die Tätigkeiten der Kindergärtner - neben Döller gibt es noch drei Betreuer - reichen von Singen, Basteln, Turnen, Bauen, Puppenspielen bis hin zum aufs Klo gehen. Und den kleinen Zappelphilipps und -lieschen gefällt das.
Anstoß. Die Koedukation von Buben und Mädchen gibt es übrigens erst seit den 60er Jahren. Davor waren die Geschlechterrollen strikt eingeteilt. Die feministische Mädchenarbeit der 70er Jahre hat für die heute vorangetriebene Pädagogik den Stein ins Rollen gebracht. In den 80er Jahren hatte man dann vermehrt auf die Förderung der Burschen gesetzt. Erst die 90er Jahre brachten eine intensive Geschlechterforschung bis hin zur geschlechtssensiblen Arbeit.
Kein Unfall der Natur. Nichtsdestotrotz: Lässt man Rhesusäffchen, die nie mit anderen Kontakt hatten, unter verschiedenem Spielzeug auswählen, würden sich die Männchen für typisches Buben- und die Weibchen für typisches Mädchenspielzeug entscheiden, gibt Grammer zu Bedenken. Seiner Ansicht nach sollten diese biologischen Grundlagen deshalb sehr wohl in der Pädagogik berücksichtigt werden. Denn das Y-Chromosom "ist kein Zufall oder Unfall der Natur". Bei Frauen besteht das alles entscheidende Geschlechtschromosom aus XX, bei Männern aus XY, was sich schließlich auch im Aufbau des Gehirns manifestiert.
Inwieweit sich geschlechtssensible Pädagogik tatsächlich auswirkt, sei schwierig zu definieren, denn "Kinder sind ein schlechtes Messinstrument", betont Rosenlechner. Die Erfolge sieht sie im täglichen Umgang mit den Kleinen. Wenn sich Buben mit einer Puppe in ein Eck zurückziehen, um auch einmal ungestört Papa spielen zu dürfen, oder sich Mädchen Raum nehmen, um ihre Bedürfnisse zu artikulieren, dann ist das schon ein großer Schritt hin zum angestrebten Ziel. Denn Kinder sollen mit sozialer Kompetenz ausgestattet werden, die sie im späteren Leben anwenden können - allerdings ohne ihr eigenes Geschlecht hintanzustellen.