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Eine Symbolfigur der Proteste in Kairo sitzt zwischen allen Stühlen.
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Kairo. Ein ägyptisches Gericht hat am Sonntag drei führende Oppositionelle wegen Verstoßes gegen das neue Versammlungsrecht zu Haftstrafen von je drei Jahren verurteilt. Ahmed Maher, Ahmed Duma und Mohammed Adel wurden für schuldig befunden, zu Protestkundgebungen ohne Genehmigung aufgerufen und Polizisten angegriffen zu haben. Die drei Verurteilten gelten als Symbolfiguren des säkularen Aufstands, der 2011 zum Sturz von Machthaber Hosni Mubarak führte. Die Opposition geht davon aus, dass nach der Muslimbruderschaft des Ex-Präsidenten Mohammed Mursi nun auch die weltliche Opposition ins Visier der Regierung gerät.
Ahmed Harara ist eine Symbolfigur der Protestbewegung wider Willen. Doch die Menschen bräuchten keine Symbolfiguren, sagt er. Trotzdem küssen sie ihn auf die Wange, wenn sie ihn auf der Straße sehen. Der 33-Jährige ist gelernter Zahnarzt, aber er ist erblindet. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 haben Schützen auf sein rechtes Auge geschossen. Bei Demonstrationen im November 2011 auf sein linkes. Er liebt das Café Riche in der Innenstadt von Kairo, denn im Keller steht dort immer noch eine Druckerpresse, die während der Revolution von 1919 von den Aufständischen für ihre Publikationen benutzt wurde. Dort trifft die "Wiener Zeitung" Ahmed Harara und spricht mit ihm über das seiner Meinung nach immer noch unterdrückerische System Ägyptens, Opferbereitschaft und Gott.
"Wiener Zeitung:" In den letzten Wochen wurden viele bekannte Aktivisten verhaftet. Was ist der Hintergrund?Ahmed Harara: Die Regierung will uns damit eine klare Nachricht schicken: Es ist genug! Seid ruhig, damit wir nicht ständig mit euch zu tun haben müssen. Sie glauben, dass wir Angst vor ihnen haben. Und sie wollen unser Bild in der Gesellschaft zerstören. Sie behaupten, dass wir bezahlt werden, dass wir eine geheime Agenda haben, dass wir Mitglieder der Muslimbruderschaft sind und all der Schwachsinn. Denn wir sind die Fischgräte in ihrem Hals, weil wir diejenigen sind, die sich widersetzen und "Nein!" sagen. Sie wollen uns den Mund verbieten. Aber das werden sie nicht schaffen.
Wie sehen Sie die Situation im Moment in der Gesellschaft?
Es gibt jetzt in Ägypten den Bürger, der Verantwortung trägt und Stabilität und eine funktionierende Wirtschaft will, der Bürger will Sicherheit. Das Regime will diese Menschen glauben machen, dass wir die Ursache für all die Wirren sind.
Glauben Sie, dass sich das bald ändern wird? Dass die Leute die Aktivisten stärker unterstützen werden?
Ich weiß es nicht und es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Menschen beginnen nachzudenken und das hat die Revolution erreicht. Nicht so wichtig ist, ob sie jetzt oder später auf unserer Seite stehen. Wir wollen nicht nur, dass das Regime untergeht, sondern wir wollen auch, dass die Leute beginnen, anders zu denken.
Was denken Sie über das neue Demonstrationsgesetz?
Zuerst müsste der Augiasstall Innenministerium ausgemistet werden, dann sollte man eine Art Übergangsjustiz einsetzen und erst dann kann man über ein Demonstrationsgesetz nachdenken. So sollte es sein. Wenn wir eine Verfassung haben, dann kann man auf Grundlage dieses Grundgesetzes einen Rechtsstaat aufbauen. Aber das Regime will Gehorsam und duldet nicht, dass sich ihm irgendwer widersetzt. Dazu kommt eine politische Dimension: Niemand soll offenbar gleichzeitig gegen das Regime und gegen die Muslimbruderschaft sein. Ich soll entweder für das Regime sein und den Generälen Applaus spenden oder einen Claqueur für die Muslimbruderschaft abgeben, damit ich gemeinsam mit ihnen durch den Fleischwolf gedreht werden kann. Das ist der Sinn dieses neuen Demonstrationsgesetzes - für mich ist das völlig inakzeptabel.
Sie wurden von den Sicherheitskräften der Regierung in ewige Dunkelheit gestoßen, ist das nicht ein zu großes Opfer?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt Menschen, die viel mehr geopfert haben als ich. Aber ich bin eben berühmt geworden. Es gibt Menschen, die schwerer verletzt wurden und in einem größeren Unglück als ich leben. Aber niemand kennt sie. Wir sind jetzt gerade im Kampf gegen dieses System. Für mich ist es nicht wichtig, welche Mittel sie haben. Es ist viel wichtiger, dass ich dieses Regime stürze. Viel wichtiger ist am Ende, dass die Menschen rausgehen und sich ihr Recht nehmen. Die staatlichen Institutionen sollten nicht die Menschen benutzen, sondern sie sollten den Menschen dienen.
Waren Sie auch bei den Protesten vom 30. Juni, die dann zum Sturz von Präsident Mohamed Mursi von der Muslimbruderschaft geführt haben?
Leider (lacht). Nein, nicht dass ich es bereue. Ich war überzeugt davon. Aber was danach passierte, habe ich erwartet und befürchtet. Dass die Armee sich die Revolution unter den Nagel reißt. Ich wünschte, das wäre nicht passiert. Tamarod (Tamarod hat eine Unterschriftenaktion gegen Mohamed Mursi organisiert, Anm.) war eine genuine Idee. Die Leute haben eine Revolution getragen, aber die Armee hat sie vereinnahmt, um ihre Privilegien behalten zu können. Das Militär vermittelte den Leuten das Bild, dass sie die Retterin der Nation ist und ihnen beigestanden ist. Sie nutzte die Situation für ihren Vorteil.
Wie sehen Sie die Situation nach dem 30. Juni 2012, dem Tag der Vereidigung Mursis als ersten gewählten Staatspräsidenten? Schlimmer als vor der Revolution vom 25. Jänner 2011?
Das System ist dasselbe. Aber wir haben ihm einen großen Schock verpasst. Wir haben begonnen zu verstehen, dass Hosni Mubarak nur die Spitze des Eisbergs war. Die Menschen haben in ihrem Ringen um Freiheit bittere Erfahrungen gemacht und daraus gelernt. Da wir immer noch an die Revolution glauben während das Regime diese furchtbaren Fehler macht, heißt das, dass sie schwächer werden und wir stärker. Obwohl die Verfassung momentan viele Vorteile für das Militär festgeschrieben hat. Aber die Leute zu ändern braucht Zeit.
Meinen Sie nicht, dass es mehr Blut in den Straßen geben wird?
Nichts gibt es umsonst.
Braucht es eine zweite Revolution in Ägypten?
In den ägyptischen Medien sagen sie, dass die Revolution vorbei ist. Aber die Revolution wird weitergehen, bis es Gerechtigkeit in Ägypten gibt. Wir sind im Jänner auf die Straßen gegangen, dann kam die zweite Welle im November und dann am 30. Juni war die Zahl der Demonstranten noch größer. Zwischen diesen drei Wellen sind die Leute immer noch auf die Straßen gegangen. Sie können das Revolten oder Revolutionen nennen, ich sehe das als Wellen, von denen weitere folgen werden, denn finanziell und politisch hat sich im Land wenig geändert.
Können Sie sich vorstellen noch einmal mit den Anhängern der Muslimbruderschaft Seite an Seite gegen das Militär zu demonstrieren?
(Harara schüttelt heftig den Kopf) Unmöglich.
Warum?
Weil die Muslimbrüder Terroristen sind. Jeder, der Waffen auf Zivilisten richtet, ist ein Terrorist. Ich finde die Muslimbrüder sind eine terroristische Organisation. Sie sind Verräter, sie haben uns verraten, sie haben uns während der Revolution betrogen und sie wünschen sich, dass wir neben ihnen stehen. Aber wenn wir beide gleichzeitig demonstrieren, dann tue ich das wegen des Landes, sie tun es wegen der Muslimbruderschaft. Ihre Anführer müssen bestraft werden für das, was sie getan haben, und später kann man sie vielleicht wieder einbinden. Das gilt auch für die Armee und die Polizei.
Sie haben viel geopfert, warum?
Weil das System will, dass die Leute Angst haben. Sie transportieren diese Angst über viele Wege, entweder über die Religion oder die Kultur. Sie wollen einem immer Angst einjagen, damit man ihnen immer treu ergeben ist. Ich habe keine Angst. Und ich betone noch einmal, dass ich einer von denen bin, die am wenigsten geopfert haben. Das ist das Spiel des Regimes. Weil sie nicht mit vielen kämpfen können, deswegen kondensieren sie alles in einer Person, dann kann diese Person vergessen oder diffamiert werden. Aber sie vergessen eines: Wir sind viele.
Was würden Sie noch opfern?
Was auch immer es erfordert.
Auch wenn es das Leben kostet?
(Lange Pause, in der Harara nur leise lacht) Was soll das Problem sein? Was wird passieren? Ich werde sterben? Wir werden alle sterben früher oder später. Im Gegenteil, ich würde es genießen. Am Ende sehe ich unseren Gott und dann könnte ich ihn fragen warum das alles? Ich würde mit ihm zusammensitzen und diskutieren.
Zur Person
Ahmed Harara hat bei den Revolten gegen den früheren ägyptischen Machthaber Hosni Mubarak ein Auge verloren. Das zweite Auge hat er bei Protesten gegen die Armee verloren, die nach Mubaraks Fall die Macht im Land übernommen hatte. Harara wurde zu einer Symbolfigur des Protests und er ist eine Symbolfigur wider Willen.