Zum Hauptinhalt springen

Der Brexit als Chance für das EU-Budget

Von Margit Schratzenstaller

Gastkommentare

Gastkommentar: Großbritannien fällt als zweitgrößter Einzahler weg. Das wäre ein guter Zeitpunkt für eine Neuausrichtung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Diskussion über die Auswirkungen des Brexit im Vorfeld der anstehenden Verhandlungen über das nächste EU-Budget für 2021 bis 2027 fokussiert fast ausschließlich auf einige wenige Zahlen: insbesondere auf das künftige Volumen des EU-Budgets und die nationalen Beiträge der EU-Staaten nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs, des derzeit noch zweitgrößten Einzahlers in das EU-Budget. Vor allem die zehn Nettobeitragszahler scheinen sich eher gegen steigende Beitragszahlungen zu positionieren. Unmittelbar ist diese Reaktion nachvollziehbar, da es um nicht unerhebliche Beträge geht: So hätte etwa Deutschland jährlich einen zusätzlichen Nettobeitrag von bis zu 3,5 Milliarden Euro zu erwarten, Österreich bis zu 394 Millionen Euro.

Gleichzeitig folgt diese Diskussion einem aus vergangenen EU-Budgetverhandlungen wohlbekannten Argumentationsmuster: Die Mitgliedsländer ermitteln ihren Nutzen aus dem EU-Budget, das sich derzeit auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens der EU beläuft, primär auf der Basis ihrer Nettoposition: also dem Saldo aus Zahlungen ins EU-Budget und erhaltenen Transfers. Dagegen wird der indirekte Nutzen aus der EU-Mitgliedschaft fast völlig vernachlässigt.

Diese Nettobeitragslogik verstellt den Blick auf die Chance, die der Brexit-Schock für fundamentale Strukturreformen im EU-Budget eröffnet, wie sie der Anfang 2017 veröffentlichte Report der Arbeitsgruppe um Ex-EU-Kommissar Mario Monti zur Zukunft des EU-Eigenmittelsystems sehr prominent betont hat.

Große Herausforderungen

Die EU ist mit einer Reihe großer langfristiger Herausforderungen konfrontiert: die jüngsten und mögliche künftige Erweiterungsrunden; Strukturprobleme der südlichen Länder; historisch hohe (Jugend-)Arbeitslosenraten; Klimawandel; Energiewende; steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit; zunehmendes Armutsrisiko; demografischer Wandel; Flüchtlingsmigration. Die derzeitige Einnahmen- und Ausgabenstruktur des EU-Budgets trägt zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu wenig bei.

Prinzipiell sollten sich die Ausgaben der EU auf Politikbereiche beschränken, in denen nationalstaatliche Politik an Grenzen stößt oder in denen es um gemeinsame europäische Interessen geht. Das bestehende EU-Budget finanziert zu wenige solcher echter europäischer öffentlicher Güter und schafft damit zu wenig europäischen Mehrwert. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Nettobeitragszahler eine weitere Ausdehnung oder auch nur Aufrechterhaltung des derzeitigen Umfangs des EU-Budgets zunehmend skeptisch sehen und ein steigender Anteil der EU-Bürger keinen direkten Nutzen aus dem EU-Budget wahrnimmt.

Derzeit werden 13 Prozent der EU-Ausgaben für Wettbewerbsfähigkeit und Infrastruktur einschließlich Forschung und Entwicklung verwendet, 34 Prozent für Kohäsionspolitik und weitere 39 Prozent für die Agrarpolitik. Um ein sozial inklusives und ökologisch nachhaltiges Wachstum für die EU unterstützen zu können, wie es in der EU-2020-Strategie oder der UN-2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung verankert ist, sind die EU-Ausgaben grundlegend umzustrukturieren. Zumindest die folgenden vier Defizite sind zu adressieren:

Erstens konservieren die Agrarausgaben primär bestehende konventionelle Produktionsstrukturen innerhalb der "ersten Säule" der Gemeinsamen Agrarpolitik. Ein großer Teil der Agrarsubventionen geht an große, konventionell arbeitende Produzenten. Die Einkommensstützungszahlungen für kleinere Betriebe werden zu wenig an Vorgaben für eine ökologisch und sozial nachhaltige Produktion gekoppelt. In die nachhaltigkeitsorientiertere "zweite Säule" der Agrarpolitik, die aktiv ökologische Produktion und ländliche Beschäftigung auf kleineren Höfen unterstützen kann, fließt derzeit weniger als ein Viertel der gesamten Agrarausgaben.

Zweitens fokussiert die Struktur- und Kohäsionspolitik nach wie vor stark auf eine traditionelle Infrastrukturpolitik, die materielle (Groß-)Infrastrukturprojekte bevorzugt. Ein beträchtlicher Teil der Mittel für Agrar- und Kohäsionspolitik geht in die "reicheren" EU-Staaten, sie werden insgesamt zu wenig treffsicher in die "ärmeren" Länder umverteilt.

Drittens machen Ausgaben für Forschung und Infrastruktur immer noch einen relativ geringen Anteil an den EU-Gesamtausgaben aus. Ein sehr kleiner Anteil der Forschungsausgaben unterstützt aktiv eine sozio-ökologische Transformation: So gehen etwa nur 5 Prozent der Forschungsausgaben in die "grüne" Forschung.

Viertens sind zu wenige Mittel für einen substanziellen Beitrag der EU zu den Zielen einer international koordinierten Abmilderung der weltweiten Flüchtlingskrise verfügbar, wie sie die UNO anstrebt: mehr Mittel für humanitäre Hilfe; funktionierende Umsiedelungsprogramme oder alternative rechtliche Strukturen, um Länder zur Aufnahme von mehr Flüchtlingen zu bewegen; Integrationspolitik, die Flüchtlingen den Zugang zu Bildung und Arbeit ermöglicht.

Die Schaffung eines europäischen Mehrwerts mit Nachhaltigkeitsfokus erfordert Umschichtungen im EU-Budget. Die Agrarausgaben innerhalb der ersten Säule sind zu reduzieren und die Direktzahlungen an Landwirte zu ökologisieren. Und die Ausgaben sind zur "zweiten Säule", die Umwelt- und Beschäftigungsziele unterstützt, zu verschieben. Die Kohäsionsmittel sind von "reicheren" zu "ärmeren" Mitgliedstaaten zu verschieben und stärker an Klima- und Beschäftigungsziele sowie eine pro-aktive Migrations- und Integrationspolitik zu koppeln. Die Ausgaben für Forschung sind mit Schwerpunkt auf ökologische und soziale Aspekte zu erhöhen, ebenso die Ausgaben für nachhaltigkeitsorientierte Infrastruktur mit Fokus auf transeuropäische Netze (vor allem Eisenbahninfrastruktur).

Kritik am Eigenmittelsystem

Parallel zu grundlegenden Reformen der EU-Ausgaben sollte das EU-Eigenmittelsystem einer Fundamentalreform unterzogen werden. Zwar hat das bestehende System durchaus seine Vorzüge: Es sorgt für stetige, vorhersehbare und verlässliche Einnahmen und garantiert ein ausgeglichenes Budget. Es resultiert in einer "fairen" Lastenverteilung zwischen den EU-Staaten, die gemäß dem Subsidiaritätsprinzip frei über die Verteilung der Belastung aus den Beitragszahlungen auf die Steuerzahler entscheiden können. Dennoch wird das Eigenmittelsystem seit langem kritisiert. Aus Nachhaltigkeitssicht bezieht sich der wichtigste Kritikpunkt darauf, dass es überhaupt nicht zur erwähnten EU-2020-Strategie und zu den nachhaltigen Entwicklungszielen beiträgt. Nachhaltigkeitsorientierte steuerbasierte Eigenmittel, die einen beträchtlichen Teil der nationalen Zahlungen ins EU-Budget ersetzen würden, könnten den Beitrag des Eigenmittelsystems zur Umsetzung zentraler EU-Ziele stärken. Im EU-Projekt "FairTax" werden derzeit Kandidaten für steuerbasierte Eigenmittel analysiert: eine EU-weite CO2-basierte Flugticketabgabe, eine Vermögensteuer, eine Finanztransaktionssteuer; eine gemeinsame Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage. Die meisten dieser Optionen werden auch im Monti-Report angesprochen. Steuerbasierte Eigenmittel stärken die Nachhaltigkeit der Besteuerung in der EU nicht nur direkt, sondern auch indirekt. Denn durch den Wegfall nationaler Beitragszahlungen schaffen sie Spielraum für die EU-Staaten, weniger nachhaltigkeitsorientierte Abgaben zu senken, insbesondere die oft hohen Abgaben auf Arbeit.

Wie realistisch ist die Umsetzung vor dem Hintergrund des bevorstehenden Brexit? Einerseits kann der Brexit zukunftsorientierte Reformen des EU-Budgets direkt unterstützen. Erstens, weil das Vereinigte Königreich einer der dezidiertesten Gegner einer stärkeren Steuerkoordination in der EU ist. Daher könnten ohne die Briten steuerbasierte Eigenmittel - etwa eine Finanztransaktionssteuer - leichter eingeführt werden. Zweitens, weil Großbritannien einer der entschiedensten Vertreter der Nettozahlerposition ist und sich in seiner Bewertung des Nutzens aus dem EU-Budget primär auf den Saldo aus Beitragszahlungen und empfangenen Transferzahlungen statt auf den europäischen Mehrwert von EU-Ausgaben fokussiert. Und drittens wird der Briten-Rabatt unnötig. Damit kann auch der Rabatt vom Rabatt für einige Nettozahler, darunter auch Österreich, endlich abgeschafft werden.

Mehrwert für die Bürger

Indirekte Unterstützung kann aus einem zunehmenden Bewusstsein der EU-Staaten resultieren, dass das EU-Budget einen größeren Mehrwert für die Bürger liefern muss, um Exit-Bewegungen in anderen EU-Staaten die Nahrung zu entziehen. Dies könnte die Offenheit und Bereitschaft erhöhen, Ausgabenreformen zur Stärkung des Europäischen Mehrwerts zuzustimmen: Und auch Reformen im Eigenmittelsystem zu akzeptieren, insbesondere bestimmte steuerbasierte EU-Eigenmittel. Und hier wiederum solche, die integrative Kraft entfalten können, weil sie, wie die Finanztransaktionssteuer, vielen EU-Bürgern als attraktiv erscheinen.

Andererseits könnte der Brexit die Nettozahlerdebatte zumindest kurzfristig verschärfen und Forderungen aus den Reihen der Nettozahlerländer nach einer Kürzung des EU-Budgetvolumens und/oder neuen Rabatten auslösen. Und er könnte die Diskussionen und Entscheidungen über Reformen im EU-Budget verzögern, abhängig von den Fortschritten in den laufenden Verhandlungen über die "divorce bill" und die künftigen Beziehungen zwischen den Briten und der EU.

Letztlich wird entscheidend sein, wie sich die Mitgliedsländer an den aufgrund des Brexit zu erwartenden Ausfall von netto jährlich 10 Milliarden Euro anpassen: durch höhere nationale Beiträge, zusätzliche Einnahmenquellen, Ausgabenkürzungen oder mit einer Kombination dieser Optionen. Der Ersatz eines bedeutenden Anteils der nationalen Beiträge durch nachhaltigkeitsorientierte steuerbasierte Eigenmittel könnte als Katalysator dafür wirken, dass die Nettozahler der Aufrechterhaltung des derzeitigen Ausgabenniveaus im Tausch für eine weitreichende Reform der Ausgabenstruktur zustimmen.

Eine detailliertere Fassung dieses Kommentars ist als Policy Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) erschienen: www.oegfe.at/policybriefs