Brexit-Verhandler Gregor Schusterschitz kritisiert den Zwist in London und hofft auf eine Lösung in letzter Minute.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Bei der Abstimmung über ihr Brexit-Abkommen im britischen Unterhaus hat Theresa May eine totale Niederlage eingefahren. Bis Montag muss die Premierministerin einen Plan B vorlegen. Wie könnte der aussehen?
Gregor Schusterschitz: Die Abgeordneten haben aus unterschiedlichen Gründen gegen das Abkommen gestimmt, die Tories haben es aus anderen Gründen abgelehnt als Labour. May muss jetzt klären, in welche Richtung sie sich bewegen will und wie sie es schafft, einen Ausweg zu finden, der eine Mehrheit bekommt. Wir können noch nicht spekulieren, was wir machen werden, weil wir ihre Exit-Strategie aus diesem Schlamassel nicht kennen.
Brüssel will das Abkommen nicht mehr aufschnüren. May wird dennoch versuchen, Zugeständnisse zu erhalten beim umstrittenen Backstop, der eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindert. Gibt es da eine Möglichkeit?
Der Backstop ist das Hauptproblem für manche Tories. Die EU hat immer klargemacht - und das steht auch so im Vertrag -, dass der Backstop eine Rückversicherung ist und kein reales, drohendes Problem. Jeder will ein gutes Abkommen für das zukünftige Verhältnis. Für beide Seiten steht im Vordergrund, die Lage in Nordirland nicht wieder eskalieren zu lassen. Dass es nie eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland geben darf, ist common sense. Was man daran jetzt noch ändern kann, weiß ich nicht. Das ist kein reales Problem, sondern ein parteipolitisches.
London will den Backstop zeitlich begrenzen. Viele Briten fürchten ansonsten eine Teilung des Vereinigten Königreichs und dass sie für immer eng an die EU gebunden sind. Doch Brüssel wird London das nicht zugestehen, oder?
Was passiert, wenn diese zeitliche Begrenzung abläuft? Da hat niemand eine Antwort. Wir wollen die Briten auch nicht im Backstop halten. Großbritannien ist der größte Markt direkt an unserer Türschwelle, da wollen wir gut zusammenarbeiten - aus wirtschaftlichen Gründen, aus polizeilichen Gründen und vielen mehr.
Was derzeit in London passiert, ist eine Überreaktion, die wohl auch parteipolitisch zu erklären ist. Da sehe ich wenig Spielraum von unserer Seite. Wenn es wirkliche Probleme gibt auf britischer Seite, sind wir bereit, ihnen entgegenzukommen. So war es etwa in der Frage der Zollkontrollen auf der Irischen See. Wir haben verstanden, dass das für Großbritannien extrem schwierig ist, und eine Lösung gefunden.
Die ist aber Teil des Deals, der vorerst abgeschmettert wurde. Sie waren für Österreich bei den Verhandlungen dabei. War es damals absehbar, dass May das Abkommen zu Hause nicht durchbringt?
Es war von Anfang an klar, dass es schwierig wird und parteipolitische Überlegungen, die nichts mit dem Austrittsvertrag zu tun haben, eine sehr große Rolle spielen. Ich glaube trotz der vielen gegnerischen Stimmen, dass der Deal noch nicht tot ist. Auch den Briten ist klar: Nur eine Minderheit will einen Austritt ohne Vertrag. Jetzt ist sehr viel Parteitaktik dabei, aber wir haben noch ein paar Wochen Zeit.
Wie stellen Sie sich das vor? Es haben 118 Tories dagegen gestimmt. May müsste mehr als hundert Abgeordnete überzeugen.
Das sind alles Mutmaßungen, aber wieso hat Labour dagegen gestimmt? Weil sie in der Zollunion bleiben wollen. Das ist eine Frage des zukünftigen Verhältnisses, nicht des Austrittsvertrags. Ich glaube, es gibt hier einen Spielraum. Wenn May nichts macht und sich keine Mehrheit im Parlament findet, dann sind wir im No-Deal-Szenario.
Dagegen gibt es in Westminster sogar eine Mehrheit, aber das reicht nicht - es muss sich ein Konsens für eine Alternative finden.
Genau. Es braucht eine positive Abstimmung im Parlament für eine Alternative, die den No-Deal-Brexit ausschließt. Nur so lässt er sich verhindern.
Was könnte das sein?
Das hängt davon ab, was May will. Sie muss sich einen Ausweg überlegen, dann gibt es von unserer Seite auch die Bereitschaft, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Die EU hat nie justament politische Standpunkte vertreten. Bei uns gibt es keine innenpolitischen Motive.
Beim Worst-Case-Szenario, einem No-Deal-Brexit, gebe es wieder Zölle. Wie hoch schätzen Sie den Schaden für die EU ein?
Beide Seiten werden jedenfalls Verluste erleiden, egal, ob wir ein Abkommen haben oder nicht. Es ist eine Lose-lose-Situation. Nur ist der Schaden bei einem No-Deal-Brexit noch viel höher. Da gibt es unterschiedliche Schätzungen, aber die Auswirkungen sind klar: Rückgänge von Wirtschaftsbeziehungen, aber auch Verwaltungskosten. Wenn Grenzstaaten zu Großbritannien Zollkontrollen einführen müssen, brauchen sie hunderte von Zöllner, müssen Infrastruktur bereitstellen - das sind enorme Kosten, allein, was den Handel betrifft.
Labour-Chef Jeremy Corbyn strebt Neuwahlen an. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er vor dem Brexit neuer Premier wird: Würde Brüssel den Austrittspakt mit ihm neu verhandeln, wie Corbyn sich das wünscht?
Bei einem Regierungswechsel würden wir natürlich mit dem neuen Premier weitersprechen. Ich habe aber von Labour noch keine fundamentale Kritik am Austrittsabkommen gehört. Ich weiß gar nicht, was die am Abkommen neu verhandeln würden.
Die Partei will etwas anderes als ihr Chef. Die Mehrheit verlangt ein neues Referendum, das will Corbyn nicht. Der meint, dass er das Abkommen ganz neu verhandeln würde. Wäre das überhaupt möglich?
Es gibt keine Zeit, um einen komplett neuen Deal zu verhandeln. Es hat eineinhalb Jahre gebraucht, um zu dem Deal zu kommen, der auf dem Tisch liegt.
Gregor Schusterschitz ist österreichischer Delegierter in den Brexit-Verhandlungen, seit 2015 Botschafter in Luxemburg. Zuvor war er jahrelang in Brüssel.