Nicht die Entscheidung für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist zu kritisieren, sondern ihr Zustandekommen nach einer krankenden und teils faktenbefreiten Debatte.
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Der Brexit tritt im Herbst in die heiße Phase: Deal or No Deal - und wenn Deal, welcher? Erstaunlich, dass darüber mehr als zwei Jahre nach dem Austrittsvotum und weniger als ein halbes Jahr vor dem voraussichtlichen Austrittsdatum (29. März 2019) noch Unklarheit herrscht.
Erstaunlich war aber schon der gesamte Austrittsprozess, etwa die sehr heterogenen und teils realitätsfern anmutenden Ansichten innerhalb des Brexit-Lagers in Großbritannien und der daraus resultierende Streit zwischen Fundamentalisten und Realisten innerhalb der Regierung. Polarisiert und von "Fake Promises" dominiert war bereits die Voraustrittsdebatte. Dass sich die Versprechungen mittlerweile als haltlos erwiesen haben, tut der Entschlusskraft der Brexiteers keinen Abbruch: "Brexit means Brexit." Der Brexit - ein Spektakel des Irrationalen.
Das legt auch das Problem hinter dem Brexit offen: Nicht die Austrittsentscheidung ist zu kritisieren, sondern ihr Zustandekommen nach einer krankenden und teils faktenbefreiten Debatte. Der Brexit ist damit nur ein Platzhalter für eine breitere Entwicklung in Europa und den USA. Nationalismus, Populismus und Autoritarismus sind erfolgreich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Bewegungen lösen Parteien ab, Quereinsteiger punkten gerade mit fehlender politischer (oder anderer) Kompetenz. Ihre Versprechungen sind kurzfristig gemacht und gedacht, ebenso das politische Engagement der Follower.
Viele Wähler haben sich von der klassischen politischen Debatte abgemeldet. Demokratie begreifen sie als das Recht, dem Establishment einen Denkzettel zu verpassen. Die daraufhin gewählten Politiker tragen ihre demokratische Legitimation wie eine Monstranz zum Signal vor sich her, nunmehr nach Belieben schalten zu dürfen. Für Beispiele müssen wir nicht in die USA, nach Polen, Italien oder Ungarn blicken, wir finden sie auch hierzulande.
Auch das Wahlvolk hateine Verantwortung
Übersehen wird, dass Demokratie nicht nur Recht, sondern auch Verantwortung bedeutet: Demokratie, Rechtsstaat und Minderheitenschutz sind keine Gegensätze, sondern gemeinsame und gleichberechtigte Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung. Die autoritär geprägte "illiberale Demokratie" Orbán’scher Denke, wo Demokratie gegen andere Grundwerte in Stellung gebracht wird, gibt es daher nicht.
Aber auch das Wahlvolk hat eine Verantwortung: Demokratie lebt vom ständigen Diskurs, der in der eigenen sozialen Blase jedoch gar nicht stattfindet. Ohne vorangehende Beteiligung an der Debatte kann in der Wahlkabine keine verantwortungsbewusste Entscheidung getroffen werden. Wen die politische Debatte nicht (mehr) interessiert, der missversteht sein demokratisches Beteiligungsrecht nicht nur, er missbraucht es sogar.
Die EU musste sich lange Zeit den Vorwurf demokratischer Defizite gefallen lassen. Heute hat sich das Blatt gewendet: Auch wenn landläufig anderes kolportiert wird, sind die Entscheidungsprozesse der EU mittlerweile umfassend demokratisch, transparent und partizipativ. Dagegen kommen Angriffe auf Demokratie, Rechtsstaat und andere fundamentale Werte zunehmend aus den Mitgliedstaaten.
Begrenztes Instrumentarium zur Durchsetzung von EU-Recht
Das europäische Recht kann und soll klare Antworten geben, um hier dagegenzuhalten. Das derzeitige Instrumentarium, demokratisch-rechtsstaatliche Strukturen und Entscheidungsprozesse in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, ist allerdings begrenzt: Weithin bekannt ist das - letztlich völlig zahnlose - Rechtsstaatlichkeitsverfahren laut Artikel 7 des EU-Vertrags, das die EU-Kommission um ein vorbereitendes Dialogverfahren beziehungsweise eine Bindung von EU-Förderungen an Rechtsstaatlichkeitskriterien ergänzt hat beziehungsweise ergänzen will. In den Fällen Polens, Ungarns oder Rumäniens wurden auch die (Markt-)Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbote oder der Effektivitätsgrundsatz beim Vollzug von EU-Recht als alternative Aufgriffsmöglichkeiten bemüht.
All das ist aber zu wenig, verbleibt zu punktuell und kommt zu spät. Es gilt, früher anzusetzen und der negativen, populistischen Instrumentalisierung europäischer Themen und bewusster Desinformation den Boden zu entziehen - oder diesen zumindest zu begrenzen.
Was also tun? Gegen Desinformation im Internet schwebt der EU-Kommission künftig ein Verhaltenskodex für Online-Plattformen, ein Netzwerk von Faktenprüfern und Maßnahmen zur Stärkung der Medienkompetenz der Bürger vor. Das ist gut, sollte aber nicht den Blick von der Substanz der Debatte lenken. Um die politische Debatte insgesamt zu versachlichen, braucht es mehr: Es gilt, eine europäische politische Debatte zu etablieren und die europäische Perspektive in der nationalen Debatte zu stärken. Zugegeben hat diese Forderung einen Bart, der länger ist als der erwartete Lkw-Stau vor dem Eurotunnel nach einem Brexit. Das liegt aber nicht daran, dass sie falsch ist, sondern dass sie - ein paar Medieninitiativen ausgenommen - nicht ernsthaft verfolgt wurde.
Vorschläge zur Versachlichung der europapolitischen Debatte
Tatsächlich lässt sich auf die Versachlichung der politischen, besonders der europapolitischen, Debatte in den Mitgliedstaaten Schritt für Schritt mit konkreten Maßnahmen im europäischen Recht hinwirken. Ein Beispiel ist eben der Brexit: Die Austrittsklausel im Artikel 50 des EU-Vertrags überlässt die Qualität der Austrittsdebatte derzeit vollständig den Mitgliedstaaten. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Austrittsklausel ein Katalysator einer negativen Integrationsdebatte und Türöffner für Anti-EU-Populismus.
Eine breitere Perspektive der Voraustrittsdebatte könnte gewährleistet werden, gäbe es unionsrechtliche Mindestvorgaben für die Abstimmung. Etwa könnte die Versendung eines "Abstimmungsbüchleins" nach Schweizer Vorbild - also die regierungsseitige Zurverfügungstellung neutraler Informationen vor einem Referendum - vorgesehen werden. Qualitätsfördernd wäre auch eine Ausweitung des Stimmrechts auf im Land ansässige EU-Bürger, wie dies bereits jetzt nach Artikel 22 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bei Kommunalwahlen der Fall ist. Auch Quora für eine Mindestbeteiligung oder die Zustimmung sind denkbar und versprächen eine Debatte, die auf breitere Interessen Rücksicht nehmen müsste und daher differenzierter ausfiele als derzeit.
Echtes Mitspracherecht der nationalen Parlamente
Maßnahmen dieser Art mit dem Ziel, Breite und Qualität der europapolitischen Debatte in den Mitgliedstaaten aktiv zu stimulieren, sind über die Austrittsklausel hinaus in vielen anderen Bereichen denk- und machbar - wenn man nur will. Bereits auf dem Tisch liegen etwa Vorschläge des Verfassungsausschusses des EU-Parlaments zu einer tiefgreifenden Reform der europäischen Institutionen mit dem Ziel, den nationalen Parlamenten und Abgeordneten bei der europäischen Gesetzgebung ein echtes Mitspracherecht zu geben. Derzeit haben sie nur ein Stellungnahmerecht, können die EU-Gesetzgebung aber weder endgültig aufhalten noch selbst initiieren.
Überlegt wurde daher etwa ein eigenes Initiativrecht der nationalen Parlamente oder auch die Idee, den (Minister-)Rat abwechselnd mit Parlamentariern zu beschicken und ihn so stärker zu einer echten Länderkammer (also einer Art "EU-Bundesrat") umzugestalten. Ebenso auf dem Tisch liegen die schon lange diskutierten Vorschläge für überstaatliche Parteilisten bei Wahlen zum EU-Parlament, für eine weitere Stärkung des Spitzenkandidatenmodells bei den EU-Wahlen und bei der Besetzung des EU-Kommissionspräsidenten und so weiter.
Heimischen Politikern das "Brüssel-Bashing" erschweren
Der erwartete Nebeneffekt solcher und anderer Maßnahmen wäre es, dass im nationalen Parlament und medialen Diskurs nicht nur, wie derzeit, über nationale Themen diskutiert würde, sondern europäische Themen und Anliegen ganz normal in die tägliche Debatte einfließen könnten. Eine maßvolle personelle Verknüpfung von europäischer und nationaler Gesetzgebung wäre ein kräftiges Zeichen gegen die behauptete Abgehobenheit der europäischen Institutionen und würde heimischen Politikern zudem das beliebte "Brüssel-Bashing" erschweren.
Der Brexit zeigt eindringlich, dass das Unionsrecht Instrumente braucht, um die Missbrauchsanfälligkeit europäischer Themen im nationalen politischen Diskurs zu beschränken und die Debatte dort so weit wie möglich informiert und rational zu halten. Diese Maßnahmen sind weder abgehoben oder undurchführbar, noch sind die Überlegungen völlig neu. Sie scheitern lediglich am Mut und Willen der Spitzenpolitik.
Klar ist, dass die EU im Gefolge der eben erst vergangenen tiefen Krisen eine grundlegende Reform braucht und - wie das "Weißbuch" zur Zukunft Europas zeigt - wohl auch bekommen wird. Langfristig krisenfest wird eine solche Reform die EU aber nur machen können, wenn auch die Zivilgesellschaft in den Blick und ihre Rolle ernst genommen wird. Es ist unerlässlich, dass Politik und Bürger wieder Verantwortung für die europäische Demokratie übernehmen.
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