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Der Brexit erlegt den Sündenbock Brüssel

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".
© privat

Wegen eingestandener Lügen verlieren die britischen "Out"-Agitatoren nun ihre vorlaute Stimme.


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Die 17 Millionen Brexiteers - 3,5 Prozent der EU-Bevölkerung - feiern die "neue Unabhängigkeit" von Europa. Haben sie bedacht, dass die "wiedergewonnene Souveränität" jeden Briten laut OECD-Berechnungen ein Monatsgehalt kosten wird? Wer ersetzt der Großgrundbesitzerin Queen jene Million Euro, die sie jährlich an EU-Agrarsubvention bekam? Und wem wollen die Briten nun alle hausgemachten Probleme in die Schuhe schieben, wenn der Sündenbock Brüssel ausfällt?

Wie sehr die britischen Rechtspopulisten und der Boulevard mit Lügen für den Brexit agitierten, belegt ein Geständnis des Chefagitators Nigel Farage: Er nahm die Behauptung als falsch zurück, der Brexit mache nun den wöchentlichen EU-Beitrag von 430 Millionen Euro für das sieche britische Gesundheitssystem frei. Plötzlich sind Farages Mitstreiter auffallend schweigsam, die beiden Großparteien hingegen mit internen Machtkämpfen ausgelastet.

Natürlich beutelt der Brexit Europa und seine Wirtschaft ganz gehörig, zumal die Briten erst im Oktober einen neuen Premier bekommen. Dieser soll dann eine möglichst lange Nachspielzeit für die vertraglich mit zwei Jahren festgelegten Austrittsverhandlungen herausschinden, damit Großbritannien die Vorteile der EU noch lange genieße. Doch irgendwann muss das abgemagerte Land seine "neue Unabhängigkeit" dem Weltmarkt aussetzen.

Für den Brexit stimmten vorwiegend Senioren, die noch ein bisschen dem britischen Weltreich nachtrauern, in dem die Sonne nie unterging. Schon 1776 erklärten die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit, weil ihnen London die Mitbestimmung über die Verwendung der Steuern verwehrte. Aber noch rund 170 Jahre sollte das eingespielte System vorhalten: Die Kolonien liefern notwendige Rohstoffe und müssen dafür britische Waren abnehmen.

Dieses lukrative Geschäft störte das 1871 gegründete Deutsche Reich, dessen junge Industrie mit minderwertiger Massenware wie Messer oder Scheren der britischen Marktanteile abzujagen trachtete. Also ließ London 1887 deutsche Waren zur Warnung der Konsumenten mit "Made in Germany" brandmarken. Die Deutschen lernten diese Lektion sofort und verbesserten die Qualität ihrer Waren derart, dass "Made in Germany" zur Weltmarke aufstieg.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sicherte US-Präsident Franklin D. Roosevelt den bedrängten Briten umfassende Waffenhilfe zu - aber nicht dafür, dass London "weiter auf den Kolonialvölkern herumreitet". 1945 war Großbritannien Siegermacht und keine 20 Jahre später das Imperium los, weil die Kolonien den britischen Reiter abwarfen - ausgenommen Zwerge wie Gibraltar, die Falklandinseln oder Bermuda. Gleichwohl entschieden die Briten sich statt für Europa für die Insel.

Die Schotten lehnten den Brexit deutlich ab und wollen nun eine Volksabstimmung über Unabhängigkeit und EU-Mitgliedschaft. Nur bedürfte Schottlands Austritt aus Großbritannien der Erlaubnis aus London, das für die Schotten das ist, was Brüssel für die Brexiteers ist: Fremdbestimmung. Legt London die Elle wie beim Brexit an und gestattet die schottische Unabhängigkeit? Dann wäre Great Britain endgültig auf Little Britain geschrumpft.