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Der Brexit hat begonnen

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Der Austrittsplan wirft viele Fragen auf: Mitspracherecht für das Parlament? Und wie löscht man 44 Jahre aus der Jurisdiktion?


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Hundert Tage nach dem britischen Referendum hat Premierministerin Theresa May die formelle Aufkündigung der EU-Mitgliedschaft bis Ende März 2017 versprochen. Hat damit der Brexit begonnen?

Ja. London hat sich jetzt erstmals eine Frist für die erforderliche Austritts-Erklärung gegenüber der EU vorgegeben. Auch die Art und Weise, wie Großbritannien aus der Union ausgekoppelt werden sollen, steht nun fest. Artikel 50 des Vertrags von Lissabon will May bis Ende März 2017 auslösen, um die Austritts-Verhandlungen mit der EU in Gang zu setzen. Im Mai soll dann in der jährlichen Regierungserklärung eine "Great Repeal Bill" angekündigt werden, mit deren Hilfe das britische Parlament den EU-Beitritt von 1972 rückgängig machen, das Land juristisch aus der EU ausklinken und dem Europäischen Gerichtshof alle Autorität auf britischem Terrain entziehen will.

Bedeutet die Kündigung der Mitgliedschaft via Artikel 50 nicht schon den Austritt?

Nein. Damit beginnt nur der offizielle Prozess der Austrittsverhandlungen mit der EU. Dem Lissabonner Vertrag zufolge soll dann binnen zwei Jahren der Austritt im einzelnen ausgehandelt werden.

Steht es der Regierungschefin überhaupt zu, einen so schwerwiegenden Schritt ohne Grundsatzentscheid des Parlaments zu unternehmen?

Das bestreiten manche Oppositionspolitiker. Sie glauben, dass die Entscheidung nur dem Parlament zusteht, und haben darum die Gerichte angerufen. Eine erste Anhörung findet diesen Monat statt. Man geht aber davon aus, dass die Sache rasch bis vor das Höchste Gericht kommt, und rechnet mit einem endgültigen Verdikt noch bis Weihnachten dieses Jahres.

Und wenn die Mitgliedschaft erst einmal aufgekündigt ist?

Dann beginnen die äußerst komplizierten Verhandlungen mit der EU - über "Gütertrennung", eingegangene Verpflichtungen, institutionelle Fragen, EU-Renten und Ähnliches. Erst einmal bedarf die eigentliche Trennung der Regelung. Aber auch künftige Handelsbeziehungen müssen vereinbart werden. Gegebenenfalls wird ein provisorischer Vertrag nötig, da solche Handelsfragen sehr viel mehr als zwei Jahre in Anspruch nehmen dürften. Ein endgültiger Vertrag könnte später kommen.

Wer muss den Trennungsverträgen zustimmen?

Ist über die Trennungsmodalitäten binnen zwei Jahren eine Einigung erzielt, müssen die EU-Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit, das Europa-Parlament mit einfacher Mehrheit und natürlich auch London dem Deal zustimmen. Ein endgültiger Handelsvertrag, dessen Aushandlung sich ohne Weiteres acht oder zehn Jahre hinziehen könnte, wäre auf einstimmige Billigung und Ratifizierung durch die 27 EU-Staaten ebenso wie durch London angewiesen.

Was ist, wenn keine Einigung im Zwei-Jahres-Rahmen erzielt wird?

Die Verhandlungsfrist kann, wenn niemand etwas dagegen hat, verlängert werden. Sonst läuft die Zeit einfach ab - und die Briten stehen nach zwei Jahren ohne Vereinbarung "draußen vor der Tür". Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass London, bevor die zwei Jahre verflossen sind, seinen Austrittsantrag wieder zurückzieht: Zum Beispiel, falls die Stimmung in Großbritannien umschlägt - und die Regierung oder das Parlament zum Schluss kommt, dass es besser wäre, doch nicht aus der EU auszutreten. Theoretisch könnte das auch ein neuer Volksentscheid - doch May hat eine zweite Abstimmung bereits ausgeschlossen.

Wie gut ist London auf all diese Verhandlungen vorbereitet?

Niemand war auf den Brexit vorbereitet. Die Regierung in London heuert nach wie vor Rechts- und Wirtschaftsexperten an. Die Aufgabe ist größer als alles, was man sich je vorgestellt hat. Dabei verfügt allein das neu geschaffene Brexit-Ministerium unter Leitung von David Davis inzwischen über rund 500 Mitarbeiter. Es soll in den nächsten Monaten Prioritäten für die kommenden Verhandlungen erarbeiten.

Was tut sich im britischen Parlament? Was hat es mit der angekündigten "Great Repeal Bill" auf sich?

Das Parlament soll das "Große Aufhebungsgesetz" ab Sommer 2017 behandeln. Das Gesetz soll rechtzeitig zum Ausscheiden Großbritanniens - also bis spätestens März 2019 - die rechtliche Grundlage dafür liefern. Ob das zeitlich zu schaffen ist, bleibt fraglich.

Was bezweckt die "Great Repeal Bill"?

Erstens soll sie das Beitrittsgesetz von 1972 aufheben und alle Befugnisse der EU in Großbritannien beseitigen. Zweitens soll sie London Handhabe zum Löschen unliebsamer ("aufgezwungener") EU-Gesetze geben.

Und wie ist das zu leisten?

Es ist ironisch, dass die Briten anlässlich ihres Austritts das gesamte EU-Recht in die eigene Jurisdiktion übernehmen müssen. Nur so können sie dann entscheiden, welche Teile sie behalten und welche sie loswerden wollen. Dieser Prozess kann sich endlos hinziehen. Für das britische Parlament ist das, nach mehr als 44 Jahren Mitgliedschaft, ein Mammut-Job.

Könnte das Parlament den Prozess verzögern – oder den Brexit gar stoppen?

Theoretisch ja. Eine Mehrheit für Brexit hat es unter den Parlamentariern ja nie gegeben. Grüne, Liberaldemokraten und schottische Nationalisten könnten sich querlegen. Die Labour Party hätte da mehr Schwierigkeiten. Und von den Tories würden es wahrscheinlich nur wenige wagen, sich gegen den Brexit zu stellen. Für eine "Rebellion" wäre jedenfalls eher das Oberhaus gut.