Großbritanniens Austritt aus der EU hat zumindest auf Beamtenebene schon längst begonnen.
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Bekanntlich planen die großen Finanzinstitute in der Londoner City für den Ernstfall und ziehen bereits Konsequenzen aus dem drohenden "Brexit", dem möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU. Dabei reicht ein Blick auf die Personalstruktur der Brüsseler Institutionen, um die wahre Tragweite zu erkennen: Der mögliche EU-Austritt ist längst im vollen Gange. Die bürokratische Politelite von den britischen Inseln hat sich vom europäischen Integrationsprozess längst verabschiedet und verlässt scharenweise Brüssel. In Zahlen ausgedrückt: Der britische Anteil an einflussreichen Positionen in der EU-Kommission hat sich in den vergangenen zehn Jahren von 9,6 auf 5,3 Prozent reduziert. Im Bereich Finanzdienstleistungen - einem für London traditionell wichtigen Politikfeld - ist Großbritannien nur noch mit mageren 3,5 Prozent präsent. Im Binnenmarktbereich gar nur noch mit 3 Prozent. Von den insgesamt 128 höchsten Toppositionen innerhalb der EU-Kommission besetzt das Vereinigte Königreich aktuell nur noch 13 (Deutschland 20, Frankreich 11).
Und der Exodus britischer Beamter geht weiter. In den nächsten zehn Jahren werden jährlich rund 1000 Kommissionsbeamte pensioniert. 950 davon kommen aus den "alten" EU-15-Staaten - mit einem übergroßen britischen Anteil.
Gleichzeitig scheint eine EU-Karriere für junge Briten nicht mehr attraktiv. Ihr Anteil unter den Bewerbern für das nicht zu unterschätzende Prüfungsauswahlverfahren betrug in den vergangenen drei Jahren nur noch 2,4 Prozent. Bei den erfolgreichen Kandidaten lag der Anteil bei enttäuschenden 2,6 Prozent (bei einem britischen EU-Bevölkerungsanteil von 12,7 Prozent). Selbst ein von London eigens ins Leben gerufenes "EU-Fast-Stream-Programm" zeigt keine Wirkung. Kein einziger der ausgebildeten diplomatischen Jungkarrieristen wollte danach tatsächlich auch den Weg in die Brüsseler Institutionen antreten.
Das offensichtliche Desinteresse an einem Berufsleben in der EU mag zwar auch daran liegen, dass es zwischenzeitlich durchaus lukrative Alternativen gibt. Obwohl noch immer die Ansicht herrscht, EU-Bürokraten würden fürstlich entlohnt und mit Privilegien quasi überschüttet, ist solch ein Job längst nicht mehr mit dem Schlaraffenland gleichzusetzen. Die Verdienstmöglichkeiten etwa in der Londoner City übersteigen bei weitem die Brüsseler Gehaltsstrukturen. Das ist aber auch in anderen Mitgliedstaaten so. Die Einstiegsgehälter für Top-Absolventen etwa in Deutschland sind zwischenzeitlich deutlich attraktiver als in Brüssel. Dennoch kann sich die neu geschaffene EU-Bankenaufsicht der übertrittwilligen Beamten aus der Deutschen Bundesbank kaum noch erwehren.
Die Bereitschaft wie auch das Interesse, in EU-Institutionen zu arbeiten, hängt augenfällig nicht nur vom Gehalt ab. Es ist zwar eine Binsenwahrheit, aber der europäische Einigungsprozess war und ist ein Elitenprojekt. Für einen funktionierenden Integrationsprozess sind Personen an Schlüsselpositionen wie auch sogenannte Multiplikatoren unumgänglich. Diese Elite geht in Großbritannien offensichtlich derzeit massiv verloren. Die Funktionselite hat sich bereits verabschiedet, der Rest wird wohl folgen.