Zum Hauptinhalt springen

Der Brexit-Katalysator und die vier Nationen

Von Melanie Sully

Gastkommentare

Gastkommentar: Das Ergebnis des Referendums hat einige Widersprüche aufgedeckt. Und ironischerweise ist der Zement, der das Vereinigte Königreich derzeit zusammenhält, EU-Recht.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das Vereinigte Königreich ist nicht unweigerlich dazu verdammt, in seine einzelnen Bestandteile zu zerfallen, die oft spöttisch als "Little Britain" bezeichnet werden. Selbst wenn es so wäre, wäre dies ein logischer Evolutionsprozess, der das Überleben in der Geschichte von der Gründung des Irischen Freistaates in den 1920er Jahren bis zum Übergang vom British Empire zum Commonwealth ermöglicht hat.

Das Vereinigte Königreich besteht aus vier Nationen. Schottland und Nordirland, die damit für weltweite Schlagzeilen sorgten, stimmten für den Verbleib in der Europäischen Union. Und dann sind da noch zwei Brexit-Regionen, die zusammen rund 85 Prozent der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs ausmachen: Wales und, last but not least, England. Während Letzteres oft als festgefahren in den letzten Momenten eines untergehenden Reiches dargestellt wird, hat der englische Nationalismus bisher ein Schattendasein geführt. England hat kein eigenständiges Parlament, nicht einmal eine unverwechselbare Hymne und kaum eine eigene Identität.

Die Medienkonzentration dreht sich um den ehemaligen Vorsitzenden der United Kingdom Independence Party (Ukip), Nigel Farage, der es trotz sieben Versuchen nie schaffte, einen Wahlkreis für das House of Commons zu gewinnen. Seine Rolle bei der Kampagne zum Brexit-Referendum war ambivalent. Er durfte das offizielle Brexit-Lager nicht vertreten, und viele sind der Meinung, dass ohne seine umstrittenen einwanderungsfeindlichen Plakate das Ergebnis noch weit stärker zugunsten des Brexit ausgefallen wäre.

Wales - ein EU-Rätsel

Wales stellt für viele ein unerklärliches Rätsel dar: Es ist einerseits Empfänger von EU-Subventionen und andererseits für den Austritt aus der Europäischen Union. Ein Bezirk in Südwales beispielsweise hat mit mehr als 60 Prozent für den Brexit gestimmt, obwohl er großzügige Subventionen von der EU bekommt und fast keine Migranten aus Europa dort leben. Das Referendum wirkt wie eine Betriebspanne, aber viele waren überzeugt, dass man mehr an die EU zahle, als in die Region investiert werde, und dass vor allem Brüssel bestimme, was mit dem Geld passiert.

Wales selbst ist geografisch und wirtschaftlich geteilt. Die reine landschaftliche Schönheit des Nordens mit dem bei Wanderern beliebten Mount Snowden steht im deutlichen Kontrast zum düsteren Süden, der ehemaligen Zone der britischen Stahl- und Kohlebergwerke. Wales kann sich mit furchtlosen und mutigen Politikern rühmen, wie dem früheren Premierminister David Lloyd George oder Aneurin Bevan, einem ehemaligen Labour Regierungsminister und Pionier des National Health Service. Auch der glücklose Neil Kinnock, der sensationell eine Parlamentswahl gegen den Konservativen John Major verlor, kam aus Wales.

Die eng verstrickten Gemeinden der walisischen Täler haben im Kohlebergbau viele Tragödien erlitten, die ein Gefühl von eingefleischter Solidarität geschaffen haben. Dies sind stolze, starke Ortschaften mit wirtschaftlichen Problemen, wo jedoch staatliche und EU-Subventionen nicht die alleinige Lösung sind. Die Wähler haben gewusst und wissen noch, dass der Brexit wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen wird. Aber wie so vieles in der Brexit-Saga war letzten Endes nicht das Thema Wirtschaft ausschlaggebend. Wales stimmte für den Ausstieg, obwohl es den Zugang zum Binnenmarkt nicht aufgeben wollte. Trotz geringer Einwanderung sind viele unzufrieden mit dem Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das Gefühl des Verlustes der Kontrolle an Brüssel über wichtige Entscheidungen hat eine große Rolle gespielt. Und im Gegensatz zu Schottland hat Wales keine starken regionalen Zeitungen, um der Anti-EU-Stimmung der überwiegend englischen Presse entgegenzuwirken.

Nun ist Wales besorgt, dass Schottland eine bevorzugte Behandlung mit noch mehr Zugeständnissen von London erhalten könnte. Wales hat wenige Galionsfiguren, die für seine Interessen kämpfen. Im Gegenteil sind die meisten mit Nordirland beschäftigt. Sowohl das EU-Mitglied Irland als auch die Regierung in London und die anderen 26 EU-Staaten sowie die USA sind vor allem bemüht, den prekären nordirischen Frieden zu wahren.

Wenige Gemeinsamkeiten

Die vier Nationen im Vereinigten Königreich haben wenig gemeinsam und zeigen bescheidene Solidarität. Ironischerweise ist der Zement, der das Vereinigte Königreich derzeit zusammenhält, EU-Recht. Mit dem Brexit-Verfahren wird sich dieser Zement lösen, und das EU-Recht wird in das Recht des Vereinigten Königreichs aufgenommen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Parlament entscheidet, welche Gesetze es behalten und welche es verwerfen möchte. Schottland, Wales und Nordirland könnten sich jedoch dafür entscheiden, die Konformität mit dem EU-Recht in jenen Bereichen fortzusetzen, für die ihnen aus London die Kompetenz erteilt wurde. Dies würde zu einer grenzüberschreitenden Kakofonie der Gesetzgebung führen.

Die schottische Regierung will unbedingt ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten, wenn das Ergebnis der Verhandlungen unter Dach und Fach ist. Die EU aber hat signalisiert, dass die künftige Beziehung mit Großbritannien am Ende des Prozesses festgelegt werden soll. Übergangsregelungen könnten den Zugang zum Binnenmarkt vorübergehend sichern. Ein Modell für die Arbeitnehmerfreizügigkeit könnte für Regionen wie Schottland, die Facharbeiter dringend benötigen, ausgearbeitet werden. All das bedeutet, dass die genaue Lage noch länger unklar bleibt und damit keine gute Basis für ein Referendum bietet.

Neue Form des Förderalismus?

Ein Alternativszenario wäre die Entstehung einer neuen Form des Föderalismus mit einem englischen Parlament und mehr Macht für die Regionen im Norden des Landes. Ungewöhnlich für ein Zwei-Kammern-Parlament sind die diversen Nationen im Unterhaus und in den Ausschüssen vertreten. Darüber hinaus gibt es nach wie vor Minister für Nordirland, Schottland und Wales. Allerdings könnten Parlamentsmitglieder für Wales, Schottland und Nordirland genauso gut einen Platz in einem neuen Oberhaus (dem jetzigen House of Lords) finden, dass nach einer Art Länderkammer gebildet werden könnte.

Der Brexit hat jedenfalls auch den Weg für eine fantasievolle Umstrukturierung des britischen politischen Systems geöffnet, das den Interessen der vier Nationen gegebenenfalls besser dienen könnte als bisher.