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"Der Brexit nutzt der IRA"

Von Siobhán Geets

Politik

IRA-Gruppen begrüßen alles, was den britischen Staat schwächt - auch den Brexit. Viele Republikaner hätten sich eine harte Grenze in Irland insgeheim erhofft, sagt der Historiker Dieter Reinisch.


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"Wiener Zeitung": Mit dem Brexit steigt die Angst vor Gewalt durch republikanische Paramilitärs in Nordirland. Welchen Einfluss haben Gruppen wie die New IRA, die für die Tötung der Journalistin Lyra McKee verantwortlich ist?

Dieter Reinisch: Die stärkste politische Gruppe ist Saoradh, der politische Arm der New IRA. Bei deren vor kurzem abgehaltenen Konferenz waren rund 150 Delegierte. Republikanische Organisationen sind in konzentrischen Kreisen aufgebaut: Es gibt zwischen 500 und 600 Parteimitglieder. Die Zahl der Unterstützer, die Geld sammeln, Safe Houses und Infrastruktur zur Verfügung stellen, liegt im unteren vierstelligen Bereich.

Wie viele sind gewaltbereit?

Ich schätze die Zahl der aktiven Mitglieder der New IRA, die bereit sind, Waffengewalt einzusetzen, auf 100 bis 150 Personen.

Die IRA war im Sinne ihrer antiimperialistischen Haltung immer gegen die EU. Wie ist das heute beim Brexit?

Die republikanische Bewegung war immer EU-kritisch, das war auch lange die Position der Sinn Féin (die irisch-nationalistische Partei ging aus der Provisional IRA hervor und stellt in Nordirland die zweitgrößte Partei, Anm.). Sie hat sich erst in den vergangenen fünf Jahren gewandelt. Die anderen republikanischen Gruppen betrachten die EU weiterhin als imperialistisch. Sie als Brexiteers zu bezeichnen wäre aber vereinfachend. Der Brexit nutzt ihnen, aber das würden sie nie offen sagen. Das EU-Referendum war ein britisches Referendum, die irischen Republikaner nahmen daran nicht teil. Gruppen wie Saoradh wollen die Wiedervereinigung mit Irland und dieses unabhängige Irland dann aus der EU führen - egal, ob mit oder ohne Brexit. Das Problem der republikanischen Gruppen mit dem Brexit ist, dass ihre potenzielle Basis gegen ihn gestimmt hat: In Nordirland waren nahezu alle Katholiken für den Verbleib. Dadurch können sie nicht offen Anti-EU-Propaganda betreiben.

Das Ziel der Republikaner, die Wiedervereinigung mit Irland, wird mit dem Brexit wieder zum Thema. Begrüßt die IRA den Brexit?

Alles, was den britischen Staat schwächt, ist gut, das sagen diese Gruppen offen. Der Brexit wird oft als Geschenk für irische Nationalisten bezeichnet, weil damit die Zustimmung für die Wiedervereinigung wächst. Noch vor fünf Jahren hätte niemand gedacht, dass die Frage derart breit in der Öffentlichkeit debattiert wird. Prinzipiell gibt es die Möglichkeit eines Referendums im Karfreitagsabkommen von 1998, aber darüber hinaus ist alles unklar: Wie dieses Referendum aussehen soll, ob es noch ein zweites in der Republik Irland geben soll oder gar eines im gesamten Vereinigten Königreich. Zentral in der Debatte ist, dass der Zeitpunkt und die Art eines Referendums von London bestimmt werden. Dadurch wird es unrealistisch.

Das Austrittsabkommen des britischen Premiers Boris Johnson sieht eine Handelsgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland vor. Zuvor bestand die Gefahr einer harten Grenze zu Irland - eine Horrorvision für Republikaner?

Eine harte Grenze wäre keine Katastrophe für die Dissidenten gewesen, im Gegenteil. Die Normalisierung der Teilung Irlands liegt überhaupt nicht in ihrem Interesse. Gibt es eine harte Grenze, würde das der Bevölkerung die Teilung wieder vor Augen führen. Momentan bekommt man sie kaum mit, es ändert sich ja nur die Währung. Viele Republikaner haben sich die harte Grenze insgeheim erhofft.

Weil sie dann mit den Grenzposten ein klares Ziel hätten?

Das wurde häufig so dargestellt. Dabei wird vergessen, dass Nordirland ohnehin keine friedliche Gesellschaft ist. Es gibt immer wieder Anschläge, Paramilitärs beider Seiten haben seit dem Karfreitagsabkommen knapp 180 Menschen getötet. Ich glaube nicht, dass republikanische Gruppen eine Kampagne gegen Grenzposten gestartet hätten. In den Medien wurde die Grenzfrage viel mehr aufgebauscht, als intern die Rede davon war. Das war kein Rekrutierungsgrund. Die irische Regierung und die EU wollen keine Grenzkontrollen. Da ist die Gefahr möglicher Angriffe ein gutes Argument: Wir brauchen den Backstop, sonst kommt wieder der Nordirlandkonflikt. Der kommt aber in dieser Weise nicht mehr, auch nicht mit dem Brexit und einer harten Grenze in Irland.

Sie würde aber den fragilen Frieden in Nordirland aufs Spiel setzen.

Ja, es ist eine zusätzliche Spaltung, sie vertieft die Gräben in der Bevölkerung. Man sieht das auch bei den aktuellen Kampagnen vor den Westminster-Wahlen am 12. Dezember. Dabei geht es kaum um Inhalte, es heißt: Unsere Seite muss gegen die anderen gewinnen. Diese Spaltung verschärft sich durch den Brexit.

Unionisten, darunter die DUP, fühlen sich verraten von den Tories, loyalistische Milizen haben Gewalt angekündigt. Ist die Gefahr durch sie größer als durch republikanische Paramilitärs?

Ja. Für Loyalisten, also radikale Unionisten, ist Johnsons Deal ein Verrat, weil Nordirland anders behandelt wird als der Rest des Vereinigten Königreichs. Unter Loyalisten gibt es seit langem das Verständnis, von der eigenen politischen Führung verraten worden zu sein durch den Friedensvertrag. Die vielversprechende Friedensdividende ist ausgeblieben. Durch die weltweite Finanzkrise und die Deindustrialisierung sind viele Jobs verloren gegangen, die Schuld wird dem Friedensprozess und den Katholiken zugeschoben. Als die Ulster Volunteer Force die Waffen abgegeben hat, tat sie das im Glauben, dass die Union mit Großbritannien geschützt ist. Der Deal Johnsons verschärft das Verständnis, verraten worden zu sein.

Wer oder was wäre das Ziel von Anschlägen durch Loyalisten?

Ich glaube nicht, dass Loyalisten eine bewaffnete Kampagne starten, daran hat die Führung kein Interesse. Es kann aber sein, dass Splittergruppen, ähnlich wie auf republikanischer Seite, Anschläge verüben. Den Stellungnahmen entnimmt man, dass der Kampf südlich der Grenze geführt werden soll. Einer der Hauptfeinde in den Brexit-Verhandlungen ist die irische Regierung. Der loyalistische Aktivist Jamie Bryson hat Anschläge auf Infrastruktur in Städten der Republik angekündigt. Ich halte das für unwahrscheinlich, denn die Loyalisten kanalisieren ihren Unmut derzeit in die Unterstützung der DUP vor den Wahlen. Zu erwarten sind allerdings Straßenproteste, die wahrscheinlich in Gewalt umschlagen.

Welchen Einfluss nehmen loyalistische Paramilitärs auf unionistische Politiker?

Sie haben großen Einfluss, das sieht man an den regelmäßigen Treffen mit der DUP. Als die Loyalisten Druck gegen den Irish Language Act (Gesetz zur Gleichstellung der irischen Sprache in Nordirland, Anm.) gemacht hat, ruderte die DUP sofort zurück. Bei loyalistischen Treffen, den Townhall-Meetings, nehmen hunderte Menschen teil, auch führende Vertreter aller loyalistischen Paramilitärs sowie Volksvertreter, darunter DUP-Abgeordnete Westminsters. Unionistische Parteien sind sich des Einflusses der loyalistischen Paramilitärs also bewusst.