Gastkommentar: Großbritanniens Entfremdung von der EU begann schon mehr als zehn Jahre früher.
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Es war der Sonntag nach dem Samstag, an dem damals zehn weitere Staaten auf einen Schlag Mitglied der Europäischen Union wurden. Nur ein Land als Beispiel: Britische Zyniker hatten im Vorfeld vorhergesagt, am 2. Mai 2004 würden zehntausende Polen in Bussen nach London emigrieren, nachdem sie am 1. Mai in ihrer Heimat alles stehen und liegen gelassen hätten. Mit dem EU-Beitritt kamen ja auch Reisefreiheit und - wohl noch viel wichtiger - freier Zugang zum Arbeitsmarkt, da die Regierungen in London, Dublin und Stockholm als Einzige in der EU dieses Recht sofort anwandten.
Meine Frau und ich waren damals selbst Migranten im Vereinigten Königreich: Sie war in der Türkei geboren worden, ich in Deutschland. London war unsere Heimat, meine Arbeitsstelle, der Lebensmittelpunkt. Wir waren mit offenen Armen empfangen worden, ich bereits 1987 als Student, also sogar noch bevor aus der EG 1992 die EU wurde. EWR-Freizügigkeit erstreckt sich automatisch auch auf engste Familienangehörige, und wir fühlten uns eher als Einheimische denn als Ausländer.
Nur was am 1. Mai 2004 begann und in der Tat Stück für Stück für einen Anstieg der EU-Neuankömmlinge führte, war gleichzeitig der Startschuss für etwas im Prinzip Entgegengesetztes: den bedauerlichen schrittweise Abschied Großbritanniens und Nordirlands von genau dieser EU.
EU-Kritik als Mainstream
Für jene, die immer gegen die Mitgliedschaft in der EU waren und vor einer Verfremdung ihres Landes warnten, begannen mehr als zehn Jahre Hausaufgaben: Wie ließ sich ihre Anti-EU-Haltung in den Mainstream einführen und hoffähig machen? Für diese Aktivisten sprachen und sprechen die Zahlen für sich: Waren vor dem EU-Beitritt knapp unter 100.000 Einwohner Großbritanniens in Polen geboren, so stieg diese Zahl bereits 2010 auf 550.000 Menschen an. Insgesamt leben heute rund 3,2 Millionen EU-Ausländer im Land. Die Hälfte davon traf nach dem 1. Mai 2004 hier ein, die EU-Erweiterung trug also deutlich zur Verdoppelung des Anteils der EU-Ausländer bei. Sie machen 5 Prozent der Bevölkerung und 7 Prozent der Arbeitnehmer aus. 41 Prozent der Neuankömmlinge haben bereits einen Arbeitsvertrag in der Tasche.
Für die EU-Gegner galt es nach dem 1. Mai 2004 nur noch, andere gleichgesinnte Gruppen zusammenführen - und das Brexit-Referendum war eigentlich nur noch eine Frage der Zeit. Diese anderen Gruppierungen und Strömungen, auch in den führenden politischen Parteien mehr oder weniger stark vertreten, setzten sich etwa aus Stammtisch-Strategen zusammen, die Angst hatten, dass Kartoffelchips mit Krabbengeschmack nicht mehr verkauft werden dürften. Es gab aber auch ernstzunehmende Kritiker, die die EU als Superstaat sahen, ohne direkte Demokratie mit einem Parlament ohne Rechte. Andere prangerten einzelne EU-Gesetze an, wie zum Beispiel Arbeitnehmerrechte, und forderten "Opt out"-Regeln. Und der Euro? Da lautete die Antwort sowieso allgemein: "Nein Danke!"
Camerons Selbstfaller
Im Lande brodelte es, zumeist gegen die EU, auf seriöser wie auf Stammtisch-Ebene. Und als dann Premier David Cameron keinen anderen Ausweg mehr sah, als - so dachte er - die Anti-EU-Flügel in seiner eigenen Partei und im Lande zu beruhigen, rief er die Wähler zum Referendum. Im Nachhinein leitete das auch den Niedergang seiner eigenen politischen Karriere ein - er selber war eigentlich ein zögernder Halb-Pro-EU-Mann, der sich erhofft hatte, dass die Bürger insgesamt für den Verbleib in der EU stimmen würden.
Als Paradebeispiel für Demokratie mag der Brexit in die Geschichte des Vereinigten Königreichs eingehen. Als Kniefall vor dem Populismus bedeutet er aber auch eine äußerst ungewisse Zukunft für Großbritannien und Nordirland. Die Entwicklung hin zum Brexit war seit eineinhalb Jahrzehnten vorgezeichnet. Eine starke Regierung hätte den Brexit-Aktivisten vielleicht den Wind aus den Segeln nehmen können. Aber sie knickte ein und gab dem Populismus die Oberhand. Schade für Großbritannien, schade für Europa.