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Der chinesische Traum

Von Thomas Seifert

Politik

2017 dürfte China die USA als größte Wirtschaftsmacht ablösen.


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Peking. Chen Da Yun, genannt Chen Ayi (Ayi: Kindermädchen), ist eine einfache Frau. Sie wurde am 17. September 1956 geboren, in einem Dorf namens Jie Shi Pu, Bezirk Han Shan, Provinz Anhui. Mit elf Jahren begann sie in der Produktionseinheit Chen Man Da im Dorf zu arbeiten, sie half beim Dammbau, später in einem Geschäft. Mit 24 heiratete sie und beschloss kurz danach, in die Stadt zu ziehen. Dort hat sie es geschafft: Sie führt heute den Haushalt einer wohlhabenden Familie in Peking, mit ihrem Geld hat sie ihrem Sohn Wang Jun ein Studium an einer der besten Universitäten im Land ermöglicht. Wang Jun ist ein wohlgeratener, zurückhaltender junger Mann Mitte 30.

Er hat seine Mutter und seine Zukünftige in ein schickes Studentencafé im 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernten Uni-Viertel Wudaokou im Norden von Peking ausgeführt, es gibt Nudeln, Tee, Dumplings. "Heute habt ihr jungen Leute ein komfortables Leben", sagt Frau Chen zu ihrem Sohn Wang Jun, "wir hingegen: Chi Ku. Wir mussten Bitterkeit essen." Was so viel heißt wie, dass die Generation von Frau Chen es alles andere als leicht hatte. 25 Jahre alt war sie, als sie ihren Sohn gebar. Das war 1980. Der große Vorsitzende Mao Zedong war gerade erst fünf Jahre unter der Erde und die Reformpolitik von Deng Xiaoping hatte eben erst begonnen. China war arm und unterentwickelt.

Frau Chen sparte jeden Yuan für Ihren Sohn: "Ich selbst habe keinen einzigen Tag Bildung genossen. Also habe ich immer zu meinem Sohn gesagt: ,Lies doch noch mehr, studiere mehr, tu’s für mich, die nie eine Universität von innen gesehen hat.‘"

Wissen kann das Schicksal von Menschen verändern, diesen Satz hörte Wang Jun oft von seiner Mutter. Als er klein war, lehrten ihn seine Onkel und Tanten - sie hatten einen Universitätsabschluss - Englisch und weckten seine Begeisterung für die Naturwissenschaften. Wang Jun studiert Abfallwissenschaften und meint, er werde mit seinem Know-how einen Beitrag für bessere Luft leisten können - angesichts des Smogs in chinesischen Megacities ein wahrhaft patriotisches Ziel: "Die Menschen mögen Müllverbrennungsanlagen nicht besonders. Da entstehen hochgiftige Dioxine, dieses Problem muss technologisch gelöst werden."

Die Mutter aus einem ärmlichen Dorf, der Sohn Herr Doktor: Frau Chen und Wang Jun personifizieren den Zhongguo meng, den chinesischen Traum, von dem seit einiger Zeit im Reich der Mitte die Rede ist: Partei-Intellektuelle, Journalisten, Universitätsprofessoren und zuletzt der im März 2013 zum neuen Präsidenten gewählte Xi Jinping führen den chinesischen Traum im Mund - und er unterscheidet sich nicht sehr vom American Dream, vom amerikanischen Traum einer gesicherten Mittelstands-Existenz mit eigenem Auto, eigener Wohnung oder eigenem Häuschen, bescheidenem Wohlstand und der Verheißung auf sozialen Aufstieg.

Riesige PR-Maschinerie

in Gang gesetzt

Im Dezember 2012 haben Chinas Staatsmedien und Forscher des Nationalen Sprachwissenschaftszentrum des Erziehungsministeriums das Schriftzeichen für "Traum" sogar zum chinesischen Zeichen des Jahres 2012 erkoren.

Und Chen Si Si, die im ganzen Land populäre Sängerin der Gesangstruppe des chinesischen Atomraketenkorps, war mit ihrer schnulzigen Ballade "Der chinesische Traum - ein Traum von einer starken Nation (...) ein Traum von wohlhabenden Menschen" - wochenlang auf den vordersten Plätzen der chinesischen Charts.

Im Musikvideo zu ihrem Song sieht man Hochgeschwindigkeitszüge und Flugzeuge, die von Chinas neuem Flugzeugträger abheben, grüne Reisfelder und moderne Universitäten. Schulen haben Rede-Wettbewerbe über den chinesischen Traum abgehalten, manche haben sogenannte "Traum-Tafeln" in den Klassen aufgestellt, auf denen die Schüler Post-its aufkleben konnten, auf die sie ihre Visionen und Träume geschrieben haben. Es gibt sogar eine TV-Show mit dem Titel "die Stimme des chinesischen Traums".

"Wenn China erwacht, wird die Welt erzittern"

Chinas kommunistische Nomenklatura liebt das Malen mit dem breiten Pinsel, monumentale Ideen und in große Worte verpackte Dogmen: Darin lassen sich die Entwicklungslinien des Reichs der Mitte am besten ablesen. Mao Zedongs rigider Marxismus wurde im China unter der Führung von Deng Xiaoping flexibler, die Kontrolle der Chinesischen Kommunistischen Partei blieb aber immer noch absolut. Jiang Zemin formulierte dann das Dogma der "Drei Repräsentationen". Damit ist gemeint, dass die Partei die Veränderungen in der Gesellschaft widerspiegeln soll und es Geschäftsleuten möglich sein müsse, in die Partei einzutreten. Die Partei gab so dem "Kapitalismus mit chinesischen Charakteristika" quasi seinen offiziellen Sanktus. Hu Jintao - er war von 2003 bis 2013 Staatspräsident - wiederum sprach von der Doktrin des "wissenschaftlichen Entwicklungskonzepts" und der "harmonischen Gesellschaft". Hu meinte die Disharmonien, die in den rauschenden Jahrzehnten des chinesischen Wirtschaftswunders entstanden sind, vor allem die sich immer weiter öffnende Einkommensschere. Die Partei konnte die entstehende Kluft zwischen Arm und Reich nicht mehr länger ignorieren. Die Vorgänger von Xi Jinping formulierten ihre Dogmen noch in etwas ungelenkem Politsprech, Xis Doktrin appelliert an die Emotionen der Massen.

Der globale Einfluss Chinas wächst und im nächsten Jahrzehnt wird die chinesische Wirtschaft die amerikanische überholen. Was der nach St. Helena verbannte Napoleon im Jahre 1816 geweissagt haben soll, sollte sich aber erst ab den 1970er Jahren bewahrheiten: "Wenn China erwacht, wird die Welt erzittern."

Während das Bruttoinlandsprodukt Chinas 1820 noch ein Drittel der Weltwirtschaft betrug, war der Anteil Chinas an der Weltwirtschaft in den 1960er Jahren auf nur vier Prozent gesunken. Heute macht Chinas Wirtschaft wieder ein Sechstel der Weltwirtschaft aus, 2016 wird China laut OECD die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt abgelöst haben. Auch das ist wohl Teil des von Xi Jinping formulierten chinesischen Traums. Der napoleonische Moment.

Blitzkarriere für den "Traum"

Die Blitzkarriere des Zeichens "Traum" (chinesisch: Meng) geht jedenfalls auf den 29. November 2012 zurück. An diesem Tag, zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Generalsekretär der Partei und Oberkommandierenden der chinesischen Streitkräfte, besuchte der heutige Präsident Xi Jinping das Nationalmuseum gleich neben dem Tienanmen-Platz. Sechs mürrisch dreinblickende Mitglieder des ständigen Ausschusses des Politbüros haben Xi in die Ausstellung unter dem Titel "Der Weg zur Wiedergeburt" begleitet. Xi sprach dort vor Journalisten und Mitarbeitern des Museums vom "größten chinesischen Traum, dem großen Revival der chinesischen Nation".

In einem Artikel, der kurz nach Xis Äußerungen auf der Website der englischen Ausgabe des Magazins "Caixin" veröffentlicht wurde, war die Rede von einem "Wettbewerb des amerikanischen Traums und des chinesischen Traums".

Der "chinesische Traum" ließ Xi auch nach seiner ersten Wortmeldung nicht los. Vor dem Nationalen Volkskongress im März 2013 sagte er: "Am Ende ist der chinesische Traum ein Traum des Volkes", und in April 2013 wiederholte Xi auf der Tropeninsel Hainan beim Boao-Forum - der chinesischen Version des World Economc Forum von Davos - sein Diktum vom "chinesischen Traum" und versprach, dass dieser bis zur Mitte des Jahrhunderts in Erfüllung gehen werde - auch wenn bis dahin niemand genau sagen konnte, worin der chinesische Traum denn nun besteht.

Die China-Experten rätselten nur kurz über die Genese von Xis Idee vom chinesischen Traum. Offenbar war Xi von einer Kolumne mit dem Titel "China braucht seinen eigenen Traum" des Starkolumnisten der "New York Times", Thomas Friedman, inspiriert worden. Friedman hatte in seiner Kolumne das Dilemma von Xi Jinping beschrieben: Um sicherzustellen, dass die Kommunistische Partei auch weiterhin über eine immer anspruchsvollere Bürgerschaft herrschen kann, müsse Xi für mehr Wachstum sorgen und so die Bevölkerung ruhig halten. Gleichzeitig müsse er die Schattenseiten dieses Wachstums - angefangen von einer sich immer stärker öffnenden sozialen Schere über massive Migration vom Land in die Städte bis zur Umweltzerstörung - managen. "Der einzige Weg, um all das zu schaffen, ist ein neuer chinesischer Traum, der die Wohlstandserwartungen der Menschen mit einem nachhaltigeren Wachstum in China verbindet." Und weiter: "Wenn Xis Traum für die wachsende chinesische Mittelschicht - sie wird bis 2025 von 300 Millionen auf 800 Millionen anwachsen - genauso wie der amerikanische Traum ist (ein großes Auto, ein großes Haus und Big Macs für alle), dann brauchen wir einen zweiten Planeten."

Hoffnung auf

demokratische Reformen

Und während Friedman auf einen grünen Traum hofft, träumen chinesische Bürgerrechtler vom Verfassungsstaat. Zhang Qianfan, ein liberaler Professor für Rechtswissenschafen an der Peking-Universität, meint, mehr als drei Viertel aller Chinesen würden den "chinesischen Traum" mit dem "Konstitutionalismus-Traum" assoziieren, schrieb der "Econonist" unlängst. Konstitutionalismus ist der Glaube an die Verfassung, in der - außer in der Präambel - die Kommunistische Partei gar nicht erwähnt ist. Ohne Gewaltentrennung - das dämmert vielen chinesischen Juristen und Staatswissenschaftern - kann China kein starkes und freies Land werden. Freilich: Xi Jinping definiert den chinesischen Traum anders: "Der chinesische Traum ist ein Ideal. Kommunisten sollten ein höheres Ideal haben, und das ist der Kommunismus", sagte er im Dezember bei seinem Trip in Südchina. Er meinte auch, der Grund für den Zerfall der Sowjetunion sei gewesen, dass man sich vom ideologischen Orthodox entfernt habe.

Frau Chen Da Yun, das Kindermädchen, denkt über diese Dinge wenig nach, sagt sie, während ihr Sohn Wang Jun im Studentenrestaurant seine Nudeln und Dumplings isst. Sie ist stolz auf das Erreichte, aber für sie sei es "ein Luxus", über einen "Traum" zu sprechen. Sie sei schon zufrieden, wenn es ihr gelingt, die "Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu meistern". Ihr Sohn konnte in seiner Familie beobachten, dass Bildung den Weg zum chinesischen Traum ebnen kann: Die Verwandten seines Vaters sind einfache Bauern, die nie studiert oder eine höhere Schulbildung genossen haben, die meisten Verwandten der Mutter haben die einen Uni-Abschluss, "und sie genießen ein viel besseres Leben".

Und was soll aus den eigenen Kindern werden? Wang Juns Verlobte meint, für Kinder sei es noch zu früh. Aber in ihrer Antwort versteckt sich der Wertewandel der jungen Generation: Selbstverständlich sei Bildung ein wichtiger Aspekt, "aber wir sollen der nächsten Generation ein glückliches Leben ermöglichen". Denn trotz des Bücherstudiums, der Jahre an der Universität verspürt sie ein gewisses Defizit: Im Wissen um den Umgang der Menschen untereinander, wie man kommuniziert, welche Bedeutung der Begriff "Gesellschaft" hat, "das haben wir viel zu wenig gelernt." Glück, ein Schulranzen, der "weniger als zehn Kilo wiegt", und die Fähigkeit der Selbstreflexion und Kenntnis der eigenen Persönlichkeit, der Vorzüge und Schwächen, der Vorlieben und Abneigungen - das wünscht sie der nächsten Generation. Wang Jun, ihr Zukünftiger, glaubt dennoch, dass man in China ohne Universitäts-Abschluss keine guten Karten hat: "Die Uni kann nicht garantieren, dass du erfolgreich sein willst, aber sie kann garantieren, dass du nicht versagen wirst."