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Der Deal mit Jesus

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen
Ewerthon Marques: mit 15 Mörder, mit 19 Christ.
© Lichterbeck

In Brasilien bekennen sich immer mehr Drogengangster zum evangelikalen Glauben, darunter Schwerverbrecher.


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<p>Diese Hände. Weder groß noch kräftig, eher zart und fein. Links ein Ehering, sonst keine besonderen Merkmale. Diese Hände sind Mörderhände. Massenmörderhände. Obwohl Alexandre Gomes das nie so sagen würde. Es herrschte eben Krieg, damals. Und er war Soldat. Erst als Kind noch, später als Jugendlicher, aber immer im Einsatz. Verteidigung des Territoriums, der eigenen Leute, des Geschäfts. Auch Angriffskrieg gehörte dazu, Ausweitung der Verkaufszone. Mit Pistole und Gewehr.<p>

Neu geborener Christ

<p>Der Soldat existiert nicht mehr. Sagt er. Als er bei einem Gefecht 13 Kugeln abbekam, eine davon in den Mund, eine in den Hinterkopf, da sei er gestorben. Mit 21 Jahren. Und er wurde neu geboren. Jetzt streckt er die rechte Hand, die Pistolenhand, den Neonleuchten an der Decke entgegen, schließt die Augen, senkt den Kopf. In der Linken hält er ein Mikrofon, das seine Worte in die weite Halle trägt, in der sich 60, vielleicht 70 Besucher zwischen den Stuhlreihen verlieren.<p>"Der Satan lauert", ruft er. "Der Satan ist stark. Er vergnügt sich, wenn einer von euch leidet. Nur der Herr kann ihn besiegen. Komm Jesus, komm! Lass ein Wunder geschehen für alle unter uns, die leiden. Lass dein Wunder jetzt geschehen. Jetzt und hier!" Immer lauter wird seine Stimme, immer schneller spricht er, immer erregter, fast schreit er. Ein Crescendo der Überwältigung. Ein Wortgefecht gegen Satan.<p>Die Menschen in der Halle stehen mit erhobenen Armen, viele weinen und zittern. Flehen Jesus an und den heilenden Geist. Einige wanken zum Altar, wo der Pastor seine Hand tröstend auf ihre Stirn legt. Es ist die Killerhand. 600 Menschen hat sie getötet, wenn der Zeigefinger den Abzug einer Pistole oder eines Gewehrs drückte. So sagt es Pastor Gomes. 600 Menschen! Mehr oder weniger.<p>Die Opfer, das waren Soldaten der anderen Drogenkommandos. Militärpolizisten. Verräter, im Jargon "X9" genannt. Woher er wisse, dass es so viele waren? Man habe das registriert, bleibt er ungenau, aber er habe früh begonnen bei den Amigos dos Amigos, den Freunden der Freunde, Rio de Janeiros zweitgrößtem Drogenkommando.

Pastor Alexandre Gomes hat sein früheres Leben als Killer hinter sich gelassen.
© Lichterbeck

<p>An einem sonnigen Freitagmittag hat sich der Pastor in die letzte Reihe seiner Kirche gesetzt, der Gottesdienst ist vorüber, er rückt die Krawatte zurecht, zupft an seinen Manschettenknöpfen.<p>Die Kirche, eine umgestaltete Fabrikhalle, liegt am Rande von Nova Holanda. Neuholland. Es ist eine der 16 Favelas, die den Complexo da Marébilden, die größte Ansammlung von Armenvierteln in Rio de Janeiro. 140.000 Menschen leben hier auf wenigen Quadratkilometern in übereinandergestapelten, ineinandergeschobenen Häuschen zwischen zwei Ausfallsstraßen. Ein paar Meter neben der Kirche dröhnt der Verkehr auf der fünfspurigen Avenida Brasil. Ob er manchmal Träume habe, wegen damals, Alpträume. "Nein, nie", sagt der Pastor. Er sei ein anderer gewesen. Vom Teufel gesteuert. Er habe nichts von Jesus gewusst, nichts von der Schrift, die befreit. Nichts vom Bösen, das er nun bekämpfe.<p>Vom Killer zum Pastor. Vom Saulus zum Paulus. Es ist ein Wandel, der in seiner Reibungslosigkeit erstaunt. Der Zweifel auslöst. Ist das nicht zu einfach? Ist das nicht ein Skandal? Pastor Alexandre musste sich für seine Verbrechen nie vor der Justiz verantworten. Auch in der Kirche fragt niemand danach. Die Vergangenheit ist für ihn vergangen. Dass sie der Prolog zur Gegenwart sein könnte, unvorstellbar. Pastor Alexandres Lieblingssatz aus der Bibel stammt aus dem Johannesevangelium, 8,11. Da sagt Jesus zur Ehebrecherin: "Ich verurteile dich nicht. Gehe hin und sündige nicht mehr." Ein erlösender, ein auslösender Satz.<p>Pastor Alexandre ist einer von 12.000 Pastoren der Universalkirche vom Reich Gottes, eine der größten evangelikalen Kirchen Brasiliens, laut Selbstauskunft zählt sie acht Millionen Gläubige. Vor allem in den Armenvierteln Brasiliens dominieren die Evangelikalen. Das Land mag auf dem Papier mehrheitlich katholisch sein, aber sie geben den Ton an - in Parlamenten und auf der Straße; mancher warnt schon vor einem neuen Kirchenstaat.<p>In Nova Holanda finden sich die Tempel einiger Dutzend evangelikaler Sekten, manche für 1500 Menschen ausgelegt wie die Universalkirche; andere in einer Garage untergebracht, in der ein paar Plastikstühle und ein Küchentisch mit Deckchen als Altar stehen.<p>

Heilung und Opfer

<p>Die Evangelikalen versprechen Heilung, Erfolg, Wunder. Vor allem aber die Nähe von Jesus, der nicht im Himmel sei, sondern unter den Menschen. Er begleitet dich durchs beschwerliche Leben, verschafft dir einen Job, sorgt für Glück in der Liebe. Jesus Christus, dein Freund und Helfer.<p>Um ihre Hingebung zu beweisen müssen die Gläubigen etwas opfern, mindestens ein Zehntel des Monatsgehalts, und wer die besondere Zuwendung des Herrn braucht, natürlich mehr. "Zeigt, wie viel euch ein Wunder wert ist. Was euch Jesus bedeutet!", ruft Pastor Alexandre den Gläubigen zu.<p>Der Gründer der Universalkirche, der selbsternannte Bischof Macedo, ist heute einer der reichsten Männer Brasiliens. Sein Reichtum gilt als Beweis dafür, dass Gott ihn liebt. Er ist ein Vorbild, dem es nachzueifern gilt. "Theologie des Wohlstands" hat man das genannt. Theologie des Resultats. Auf der Heckscheibe eines Kleinwagens vor der Kirche prangt ein Aufkleber: "Gott gab ihn mir." Die Evangelikalen liefern die perfekte Religion für die Aufstiegswilligen im Schwellenland Brasilien, 100 Prozent kapitalismuskonform. Es ist auch die Religion für die Umstiegswilligen.<p>

Die "Universalkirche vom Reich Gottes" in der Favela Nova Holanda.
© Lichterbeck

Konkrete Handlungsanweisungen helfen auf den rechten Pfad: kein Alkohol, keine Zigaretten, kein außerehelicher Sex, keine Schimpfwörter, kein Karneval. "Einfallstore des Teufels", sagt Pastor Alexandre. Denn das ist der große Kampf auf Erden: Teufel gegen Jesus.<p>

Spiritueller Schutz

<p>"Für die jungen Männer aus Brasiliens Drogengangs ist das verständlich und attraktiv", sagt die Religionswissenschafterin Christina Vital. Evangelikale und Gangster sprächen unentwegt vom Krieg, das verbinde sie. Vital hat ein Buch geschrieben, "Das Gebet des Dealers". Darin untersucht sie ein für Brasilien neues Phänomen: die vielfache Konvertierung von Gangstern zum evangelikalen Glauben. "Die Evangelikalen", sagt sie, "versprechen die Allianz eines mächtigen Verbündeten. Spirituellen Schutz. Die Möglichkeit, ein neuer Mensch zu werden."<p>Tatsächlich haben sich schon ganze Gefängnisbelegschaften für evangelikal erklärt. In einer Favela verboten die Dealer den Bewohnern, sich weiß zu kleiden, wie es die Gläubigen der afro-brasilianischen Religionen tun. In einer anderen beteten sie jeden Tag zum Schichtbeginn um 5 Uhr 30 gemeinsam über ihre Funkgeräte. Dann griffen sie zu den Pistolen.<p>Pastor Alexandre findet, dass das nicht gehe. Man könne nicht gleichzeitig traficantesein, Drogendealer, und Christ. Der Glaube zeige sich im Handeln. Es gebe kein böses Leben im guten. Aber es sei ein Anfang.<p>Eigentlich wollte der Pastor nach dem Gottesdienst selbst auf die Straße, evangelisieren. Wollte zu den jungen Drogensoldaten, wollte ihnen sagen, dass sich der Herr denjenigen zuwendet, die sich ihm zuwenden. Aber die Lage lässt es nicht zu. Am Morgen wurde in Nova Holanda geschossen. Tödliche Kugeln trafen einen Polizisten und einen Dealer, nur einen Block von der Kirche entfernt. Nun herrscht nervöse Wachsamkeit. Junge Männer auf schweren Motorrädern brausen vorüber, die Läufe ihrer amerikanischen Schnellfeuergewehre gen Himmel gerichtet. "Sie erwarten die Polizei", sagt Pastor Alex, "sie wird über die Avenida Brasil kommen."<p>Offenbar ist etwas bei der Schmiergeldzahlung an die Militärpolizisten des 22. Bataillons schief gelaufen. Diese wird tradi-tionell Freitag fällig, man nennt sie arego. Die Polizisten bessern ihr Gehalt auf und lassen die anderen in Ruhe. Das ist der Deal. Manchmal aber wollen die Polizisten eine höhere Beteiligung. Oder sie müssen etwas für die Medien unternehmen. Oder eine andere Polizeieinheit will mitmischen. Dann knallt es. Dann geht der Krieg los. Dann tanzt der Satan.<p>Pastor Alexandre kennt den Tanz. Mit elf Jahren übernahm er seinen ersten Posten, wurde gleich Chef einer Drogenverkaufsstelle, einer boca de fumo, Rauchmund. Dort boten sie ihre Waren an: Marihuana, Kokain, Ecstasy, synthetische Drogen: Loló, Balinha, Perfume. Wenn die Schicht nachmittags begann, legten sie die Plastiktüten mit dem Stoff vor sich auf den Tisch. Wenn sie spätnachts gingen, waren die Tüten gefüllt mit Geldscheinen.<p>Alexandre war privilegiert, sein Vater war der Statthalter der A.D.A. in Rocinha, einer der größten Favelas von Rio. Davor arbeitete der Vater als Scharfschütze bei der brasilianischen Armee. "Die Amigos zahlten besser", sagt Alexandre.<p>Eines Tages rückte das Rote Kommando an, das Comando Vermelho. Die Erzfeinde der Amigos. Wollten die Rocinha einnehmen. Machten die Hölle los. Bei den Gefechten bekam Alexandre 13 Kugeln ab, in Arme und Beine, eine traf ihn im Mund, er zeigt das Loch im Zahnfleisch, eine in den Hinterkopf. Eine Delle im Schädel ist geblieben. Er lag monatelang im Krankenhaus, saß im Rollstuhl, der Vater zahlte. Dann stand ein evangelikaler Pastor neben ihm und sagte, dass Jesus ihm Frieden bringen könne. Ale-xandre begriff schlagartig. Damaskuserlebnis. Erweckung, Neugeburt. Er tauschte die Pistole gegen die Bibel. Es gibt schlechtere Geschäfte.<p>Der Wandel von Alexandre Gomes ist auch ein Lehrstück über Identität. Manche gehen auf die Suche nach ihrem Ich, sprechen von Herkunft und der Geschichte, die schwer wiege. Andere begreifen sich als wandelnde Wesen, mit Füßen statt Wurzeln. Schwer wiegt allenfalls die Zukunft. Da-rin steckt die Idee vom Brasilianer, der nicht zurückschaue, sich nicht mit gestern belaste. Vergessen und vergeben.<p>"Der evangelikale Ex-Gangster versteht sich als neue Kreatur", sagt Wissenschafterin Vital. "Er gehorcht einem neuen Wertesystem, ordnet sich einer neuen Hierarchie unter. Die Evangelikalen fragen nicht, was du vorher gemacht hast. Sie programmieren dich um."<p>Einen solchen Neustart macht gerade Ewerthon Marques durch. Der Weg zu ihm führt durch die labyrinthischen Gassen von Nova Holanda. Man steigt über stinkende Pfützen und Hundekot, wird als "Gringo" begrüßt, kommt an allerhand Geschäften vorbei: Gemüse wird angeboten, Fisch, Farben, Waschmittel, Mode, Süßigkeiten, Blumen. Es gibt Bars und Restaurants, Schönheitssalons, Lottoannahmestellen. Der ganze unternehmerische Mikrokosmos von Rios Favelas, zu dem auch der Drogenhandel zählt.<p>An der Ecke vor Ewerthons Behausung spielen sie auf einer Spanplatte Pingpong, ein paar Meter weiter sitzen vier Burschen mit Pistolen in der Hand und lassen einen strohhalmlangen Joint kreisen. Süßer Rauch weht die Gasse hinunter zu Ewerthon Marques, der vor seinem Häuschen steht, von dem die Farbe abblättert. Er hält ein Baby auf dem Arm, zehn Monate alt. Es ist das dritte Kind des 19-Jährigen, das vierte ist unterwegs. Hinter ihm sitzen vor dem Fernseher im Flur, der gleichzeitig Wohnzimmer ist, seine Oma, seine Mutter, seine schwangere Frau. Es läuft irgendein Quiz.<p>Ewerthon Marques war vor nicht allzu langer Zeit ein reicher junger Mann - Herr über: 21 Autos, sechs Motorräder, drei Schnellfeuergewehre, acht Pistolen. Die Fahrzeuge stammten aus Raubüberfällen, er hat sie verbrannt. Die Waffen hat er dem Roten Kommando zurückgegeben, den Herren von Nova Holanda.<p>Sein Spitzname bei den Roten war Pará.Untersetzt, mit breitem Schädel und indianischer Nase schaut er aus wie einer aus dem gleichnamigen Amazonasstaat. Es ist ein freundliches, ein lustiges Gesicht. Es ist das Gesicht eines ehemaligen Scharfrichters. "Ich will nicht darüber reden", sagt er. "Der Pará ist tot!" Aber es seien viele gewesen. Muitos,sagt er. Muitos! Die "X9", meist Polizeiinformanten, habe er gefoltert, dann habe er ihnen den Hals durchgeschnitten. Ein enger Freund sei darunter gewesen, aber ein Verräter. Er habe auch bei Feuergefechten getötet, andere Drogengangster, Polizisten.<p>Er sagt: "Du siehst alles: Massaker, Prostitution. Du musst kaltblütig sein, arrogant, intelligent, zuschlagen können, gnadenlos. Wir nahmen alles, was wir an Drogen kriegen konnten. Als traficante bist du voller Neurosen, Aggressionen, Misstrauen. Ich brauchte jede Nacht ein anderes Mädchen. Du bist 15, du hast Geld, eine Knarre, man respektiert dich, du bist unsterblich, du bist größer als Gott."<p>

Die Bekehrung

<p>Es kam die Nacht auf den 24. Juni 2013. Das Bataillon für Spezialoperationen rückte mit Panzerwagen in Nova Holanda ein, um einen Kollegen zu rächen. Die Elitepolizisten, Erkennungszeichen Totenkopf, traten auch die Tür von Marques’ Haus ein, schlugen ihn. Ein Kommandant kam, brüllte: "Lasst mich mit ihm allein!" Er brachte Pará aufs Dach und der dachte, Plastiktüte über den Kopf, das war’s. Aber der Kommandant fragte, was gibst du mir? Pará gab ihm alles, Ketten, Ringe, Uhren. Raubware. Der Kommandant sagte: "Gott hat dir ein neues Leben geschenkt." Die anderen Polizisten plünderten Parás Wohnung. "Der Pará ist auf dem Dach geblieben", sagt Ewerthon Marques. "Es war Gottes Plan."<p>Am frühen Morgen läuft Marques durch Nova Holanda, ist auf dem Weg zur Bushaltestelle, grüßt die alten Kollegen, die gerade die Nachtschicht beschließen und die Säcke mit dem Geld zuschnüren, um sie bei den Bossen abzuliefern. Marques arbeitet jetzt als Verkehrslotse vor Rios Britischer Schule, verdient im Monat so viel wie zuvor an zwei Tagen, umgerechnet 350 Euro.<p>Am Abend steht Ewerthon Marques in einer der ersten Reihen in Pastor Alexandres Kirche. Er betet, singt und gibt sein "Zehntel", mehr hat er heute nicht. Er sagt, dass er Jesus jeden Tag darum bitte, ihn vor den Versuchungen zu schützen. Er sagt: "Ich bin auch nur ein Mensch."<p>

Philipp Lichterbeck, geboren 1972, lebt zur Zeit in Rio de Janeiro und arbeitet als Journalist für verschiedene Printmedien.