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Der Deichgraf im Willy-Brandt-Haus

Von WZ-Korrespondent Markus Kauffmann

Europaarchiv

Neuer SPD-Chef erst seit 1995 Parteimitglied. | Andrea Nahles soll Vize-Parteichefin werden. | Berlin. Matthias Platzeck, 51, Ministerpräsident des Landes Brandenburg, wird beim SPD-Bundesparteitag in Karlsruhe in knapp zwei Wochen als neuer Vorsitzender kandidieren. Das erklärte er am Dienstagabend in Berlin nach einem Gespräch mit seinem Amts- und Parteikollegen aus Rheinland-Pfalz, Kurt Beck.


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Wenn die SPD-Delegierten am 15. November Platzeck zu ihrem Vorsitzenden küren, werden beide Großparteien in Deutschland zum ersten Mal von Politikern aus Ostdeutschland geführt. Ein Stück bundesdeutscher Normalität, fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung. Ein "Ossi" an der Spitze der Sozialdemokratie könnte allerdings die Gewichte in den Neuen Ländern verschieben.

Von Fluten im Sommer 1997 hochgespült

Platzeck stammt aus einer Potsdamer Arztfamilie, ist geschieden und hat drei Töchter. Als Diplomingenieur für biomedizinische Kybernetik war er beruflich in der Umwelthygiene tätig und engagierte sich schon zu DDR-Zeiten in der Umweltpolitik. Nach dem Fall der Mauer war er kurze Zeit Mitglied des Kabinetts Modrow (SED) ohne Geschäftsbereich, nahm am Runden Tisch teil und trat dem "Bündnis 90" bei, das er aber 1993 verließ. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Umweltminister des Landes Brandenburg unter Manfred Stolpe. Erst 1995 trat er der SPD bei.

Größte Popularität in und außerhalb Brandenburgs errang Platzeck während der verheerenden Flut im Sommer 1997. Seine Besonnenheit, Umsicht und Präsenz beim Krisenmanagement trug ihm den Kosenamen "Deichgraf" ein. Als die Landeshauptstadt Potsdam politisch in die Hände der PDS zu geraten drohte, schickte man ihn als Trumpf-As ins Rennen und er rettete das Bürgermeisteramt für die SPD mit beinahe Zweidrittelmehrheit. Im Juni 2002 löste er Manfred Stolpe als Ministerpräsident ab. Im gleichen Sommer brach erneut eine Flut im Lande aus, die seine Beliebtheit abermals steigerte. Er führt eine große Koalition mit dem Juniorpartner CDU.

Platzeck hat sich auf stetige, unaufgeregte Weise nach oben gearbeitet. Er gilt als zuverlässiger, berechenbarer Pragmatiker ohne scharfkatiges ideologisches Profil. Jedenfalls ist er kein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat, in keiner der alten West-Seilschaften eingebunden und gehört auch keinem der Flügel an.

Unmittelbar nach Münteferings Rücktritt war schon der Name Platzeck als potenzieller Nachfolger gefallen, zusammen mit dem des zweiten Favoriten, Kurt Beck. Der Pfälzer will sich aber im kommenden März der Wiederwahl als Ministerpräsident stellen und "jüngeren Kräften" eine Chance geben - was bei einem Altersvorsprung von gerade einmal fünf Jahren eher zum Schmunzeln anregt. Doch im internen Gespräch war schnell geklärt, daß "der Jüngere" (Platzeck) die Sache übernehmen solle.

Beck und Platzeck gemeinsam wandten sich sodann an Müntefering mit der Bitte, der künftigen Koalition als Vizekanzler und Sozialminister erhalten zu bleiben, wozu dieser sich auch bereiterklärte.

Die Krise aber schwelt weiter

So zügig und reibungslos diese Fragen gelöst wurden, so heftig sind die Nachbeben des Vorfalles in der SPD zu verspüren. Mit ihrem Abstimmungserfolg hat die Parteilinke einen Pyrrhussieg errungen. Die beiden Auslöserinnen des Eklats, Andrea Nahles und Heidemarie Wieczorek-Zeul befanden sich urplötzlich in der Rolle der Königsmörderinnen. Die "rote Heidi" wollte verhindern, daß die dreißig Jahre jüngere Nahles ihr am Parteitag den Stellvertreter-Posten streitig macht und puschte sie deshalb im Parteivorstand gegen den Willen des Vorsitzenden als Generalsekretärin durch.

In der Partei nimmt man den beiden Damen diesen Putsch ziemlich übel. Nahles soll jetzt doch nicht Generalsekretärin werden, sondern nach dem Rückzug von Wieczorek-Zeul aus dem Parteivorstand deren Position als Vizeparteichefin übernehmen.

Mehrere SPD-Politiker verlangen indes den Rücktritt des gesamten Parteivorstandes, der seinem Vorsitzenden die schmachvolle Niederlage zugefügt hatte, und eine "komplette Neuaufstellung". Die Jusos und andere junge SPD-Abgeordnete träumen von einem "Generationswechsel". Das klingt einfacher als es ist, denn die SPD ist personell ausgelaugt. Die Urenkel Willy Brandts sind inzwischen selbst in die Jahre gekommen. Nur so kann ein Sigmar Gabriel, beleibter 46jähriger, nach fast dreißigjähriger Parteikarriere und einem Kurzgastspiel als niedersächsischer Ministerpräsident noch als "Nachwuchshoffnung" durchgehen.

Keine offenen Arme für Stoiber

Der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber will sich nun doch nicht an der Koalitionsregierung beteiligen. Er könne die Interessen der "Bayernpartei" besser von München aus vertreten, lautete die Begründung, womit er vermutlich sogar recht hat. In Berlin wäre er für alle Spar- und Kürzungsbeschlüsse der Koalition mit in die Haftung genommen worden. Sollte er aber mit offenen Armen in München gerechnet haben, hat er sich getäuscht. Einerseits verübelt man ihm, daß er ausgerechnet in der schwersten SPD-Krise seit langem die Aufmerksamkeit wieder auf die Union zieht, andererseits lässt sein Kabinettsverzicht so manchen Blütentraum platzen, seinen Platz in der Staatskanzlei einzunehmen. Nicht nur bei der Schwesterpartei, sondern vor allem beim Wähler dürfte ihm sein Wankelmut geschadet haben.

Für Angela Merkel und für die Große Koalition hingegen sieht die jüngste Entwicklung nun doch wieder etwas positiver aus. Zwar sind von drei Parteivorsitzenden zwei abgesprungen, doch wird Müntefering dem Kabinett Merkel I angehören und ein Abdriften nach links verhindern. Und von Stoibers Ersatzmann Michael Glos weiß man, daß er ein hervorragendes Arbeitsverhältnis zur künftigen Regierungschefin hat. Er soll nun das Wirtschaftsressort übernehmen. Die Große Koalition ist noch ein bisschen näher gerückt.