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Der Deutungskampf um die Anklage

Von Daniel Bischof

Politik

Ein Freispruch wird öffentlich rasch mit einer Niederlage der Staatsanwälte gleichgesetzt. Ist das gerechtfertigt?


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Strafverfahren gegen Politiker und Spitzenbeamte endeten zuletzt häufiger mit einem Freispruch. Vergangene Woche wurde Heinz-Christian Strache im zweiten Rechtsgang vom Vorwurf der Bestechlichkeit - nicht rechtskräftig - freigesprochen. Im Juli 2022 hatte es in einer anderen Causa ebenfalls einen nicht rechtskräftigen Freispruch für ihn gegeben.

Der niederösterreichische Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) wurde im September 2022 freigesprochen, die Ankläger legten Rechtsmittel dagegen ein. Bereits rechtskräftig ist der Freispruch rund um die Überbleibsel der Verfassungsschutz-Razzia, ebenso jener im Amtsmissbrauch-Prozess gegen den suspendierten Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek.

Der Ausgang dieser Verfahren wird öffentlich genau verfolgt - besonders dann, wenn sie die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) betreffen. Eine Verfahrenseinstellung oder ein Freispruch für einen Politiker wird von dessen Partei schnell als Sieg verkauft. Straches Freispruch wurde medial wiederum mitunter als Niederlage der WKStA bewertet.

WKStA-Leiterin Maria-Ilse Vrabl-Sanda zeigte sich am Donnerstag über diese Bewertungen verärgert. Solche "Gedankengänge" seien eine Niederlage, weil sie von einem geringen Verständnis von rechtsstaatlichen Vorgängen zeugen, so die Behördenleiterin. Ein Strafverfahren sei kein Fußballspiel: "Wir spielen kein Match gegen einen Angeklagten."

Wie ist diese Debatte einzuordnen? Was kann aus einem Freispruch abgeleitet werden? Die "Wiener Zeitung" sprach darüber mit Experten.

Verurteilung muss "nahe liegen"

Wann eine Anklage erhoben werden darf, ist in § 210 der Strafprozessordnung geregelt. "Wenn aufgrund ausreichend geklärten Sachverhalts eine Verurteilung nahe liegt und kein Grund für die Einstellung des Verfahrens oder den Rücktritt von Verfolgung vorliegt, hat die Staatsanwaltschaft" eine Anklage einzubringen. Näher mit dieser Bestimmung hat sich der Strafrechtsexperte und ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofes, Eckart Ratz, in Fachbeiträgen befasst.

Ratz fokussiert sich auf die Formulierung "eine Verurteilung nahe liegt". Eine naturwissenschaftliche Methode für eine genaue Messung in Prozentpunkten sei dafür nicht vorhanden, schreibt er. Ratz plädiert dafür, auf den allgemeinen Sprachgebrauch abzustellen - eine Verurteilung müsse im Einzelfall also näher liegen als ein Freispruch: "Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit von Verurteilung anstelle von Freispruch kann daher ohne weiteres mit einer Verurteilungswahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent angegeben werden."

Was heißt das in der Praxis? "Voraussetzung ist immer, dass aufgrund der vorliegenden Beweise eine Verurteilung wahrscheinlicher als ein Freispruch ist", sagt Cornelia Koller, Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung. Bei der Beurteilung dieser Wahrscheinlichkeit können auch ungeklärte Rechtsfragen eine Rolle spielen: "Wenn es keine Judikatur dazu gibt oder wir von der ständigen Judikatur abweichen wollen, muss darüber ein unabhängiges Gericht entscheiden."

So klar ist die Entscheidung im Einzelfall oft nicht, gerade bei Korruptionsfällen: Hier seien oft keine Zeugen oder Dokumente als Beweise vorhanden, sondern "nur Indizien rundherum", sagt Ex-Staatsanwalt Gerhard Jarosch. Und selbst wenn solche Beweise existieren, könne es bei jedem Verfahren in der Hauptverhandlung anders kommen als erwartet. Etwa dann, wenn der wichtigste Zeuge etwas Anderes aussagt als im Ermittlungsverfahren. Dann falle man plötzlich um den wichtigsten Beweis um, sagt Jarosch, der heute bei der PR-Agentur "Rosam.Grünberger.Jarosch & Partner" arbeitet. Jarosch hat den Unternehmer Siegfried Wolf, gegen den ermittelt wird, beraten, sonst hat er derzeit keine prominenten Mandate in Korruptionsfällen inne.

Hinzu kommt, dass Korruptionsverfahren eben oft medial und politisch beobachtet und bewertet werden. Bei einer Einstellung kann dann etwa der - meist nicht näher präzisierte - Vorwurf auftauchen, ein Politiker habe es sich durch seinen Einfluss auf die Justiz wieder einmal "gerichtet".

"Staatsanwälte sind auch nur Menschen"

In die Entscheidung, ob eine Anklage erhoben wird, dürfen solche Aspekte nicht einfließen, sagt Koller: "Wenn wir Angst davor hätten, von einer Partei wegen einer Entscheidung angegriffen zu werden, wären wir nicht mehr objektiv." Diese Objektivität werde auch dadurch gewährleistet, dass stets mehrere Personen mit einem Sachverhalt befasst werden: "Bei einem berichtspflichtigen Korruptionsfall schauen bis zu elf Staatsanwälte darüber, bevor es zu einer Entscheidung über die Anklage kommt. Da ist es nicht möglich, eine persönlich gefärbte Meinung hineinzubringen."

In der Praxis könne es schon vorkommen, dass Aspekte abseits der Strafprozessordnung eine Rolle bei der Anklageerhebung spielen, sagt Ex-Staatsanwalt Jarosch. Der oft massive öffentlich-mediale Druck, der sich auch im Justizapparat niederschlagen könne, könne durchaus die Entscheidung, ob eine Anklage erhoben wird, beeinflussen: "Staatsanwälte sind auch nur Menschen." Letztlich komme es auf die einzelnen Ankläger an, wie sie mit diesem Druck umgehen.

Dienst- und Fachaufsicht als Korrektiv

Dieser Druck und der Kampf um die Deutung staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Entscheidungen hat aufgrund der Vielzahl an brisanten Ermittlungen in den vergangenen Jahren zugenommen. Vor allem in den parlamentarischen U-Ausschüssen interpretierten Parteien den Ausgang der Verfahren für ihre Zwecke.

Koller mahnt, dass ein Freispruch oder eine Verurteilung nicht als Niederlage oder Sieg einer Staatsanwaltschaft gesehen werden dürfe: "Unsere Aufgabe im staatlichen Gefüge ist es, den Sachverhalt zu klären und Rechtsfragen einer Judikatur zuzuführen", so die Standesvertreterin. Eine Evaluierung, was bei Anklagen funktioniert und was nicht funktioniert habe, sei bei abgeschlossenen Verfahren aber geboten und sinnvoll.

Jarosch nimmt vor allem die Medien in die Pflicht: Eine deutlich sachlichere und ruhigere Berichterstattung wäre in vielen Fällen angebracht. Zugleich müsse die Justiz selbstkritisch sein und sich hinterfragen. Es sei einerseits schwer, Korruption nachzuweisen. Andererseits müsse schon auch gefragt werden: "Klagen wir zu schnell an? Lassen wir uns manchmal vom öffentlichen Druck leiten?" Hier sei vor allem die Dienst- und Fachaufsicht in den Oberstaatsanwaltschaften und im Justizministerium gefragt. Diese überprüft und genehmigt die Anklagevorhaben der Staatsanwaltschaften.

Eine "pflichtbewusste Wahrnehmung der Befugnisse zur Dienstaufsicht" fordert auch Ex-OGH-Präsident Ratz ein. Diese mache "Schwachstellen im Gedankengang augenfällig" und biete "in kaum zu überschätzender Weise Schutz vor rechtsstaatlich bedenklichen Verfolgungsschritten", schreibt er.