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Der Dickste muss auch vorne stehen

Von Thomas Seifert und Walter Hämmerle

Politik

Militärische Zusammenarbeit in der EU brächte Milliarden-Einsparungen.


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"Wiener Zeitung": Herr Ischinger, wen oder was assoziieren Sie mit dem Begriff "Papiertiger"?

Wolfgang Ischinger: Da fällt mir leider die Europäische Union ein - und das müssen wir dringend ändern.

Können Sie das näher erläutern?

Die EU ist ein besonders prägnantes Beispiel, bei dem Erwartungen und Notwendigkeiten nicht im Einklang stehen mit den tatsächlichen Fähigkeiten. Ich beziehe das natürlich besonders auch auf Deutschland: Wir konnten über Jahrzehnte sagen, dass in der EU alle Mitglieder gleich sind. Im Gefolge der Finanzkrise hat sich jedoch hier eine Veränderung ergeben: Alle Welt schaut bei der Bewältigung der Eurokrise jetzt auf Berlin. Diese Erwartungen - und das ist bereits international spürbar - machen aber nicht Halt bei der Lösung der Schuldenkrise, sondern greifen auch auf den Bereich der Außenpolitik über. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, vielleicht nicht sofort, aber doch spätestens nach der Bundestagswahl im September. Es geht nicht mehr, dass sich der Größte und Dickste im Klub dann, wenn es schwierig wird, in die zweite Reihe zurückzieht.

Sie denken hier an die militärischen Einsätze in Libyen oder jetzt in Mali?

Ja, aber auch an andere Fragen. In Deutschland haben wir uns immer wohlgefühlt mit dem Slogan "Kultur der Zurückhaltung". Das wird uns allerdings in Zukunft keiner mehr abnehmen. Mit dem Verweis darauf haben wir ja in der Vergangenheit immer wieder eine Führungsrolle bei der Meinungsbildung und in Bezug auf die Handlungsfähigkeit nicht nur nicht angestrebt, sondern sogar aktiv verweigert. Innenpolitisch ist das den deutschen Politikern gar nicht schlecht bekommen, denn die Bürger sind ja eher pazifistisch gesinnt. Militärisch nichts zu tun, kommt in Deutschland immer gut an.

Würde hier nicht der mögliche Rückzug Großbritanniens aus dem europäischen Integrationsprozess im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschland automatisch die Hauptlast aufbürden?

Ohne Großbritannien wird es in diesem Bereich kaum Fortschritte geben. Ohne London erachte ich eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik im globalen Maßstab nicht für darstellbar. Schon aus diesem, aber nicht nur aus diesem Grund gehöre ich zu jenen, die dafür plädieren, fast alles zu tun, damit Großbritannien Mitglied der EU bleibt. Auch London weiß, dass es hier viel verlieren würde, denn ohne gemeinsame EU-Anstrengung wird es angesichts der national notwendig gewordenen Budgetkürzungen etwa keinen neuen britischen Flugzeugträger mehr geben - und vieles andere auch nicht. Pooling & Sharing, also Einsparungen durch das Zusammenlegen von Ressourcen, ist in diesem Bereich das Gebot der Zukunft.

Seit Jahren stehen permanent und rund um die Uhr 1500 Infanteriesoldaten im Rahmen der EU-Battlegroups bereit. Zum Einsatz kamen Sie allerdings noch nie, es fehlt dazu der politische Wille. Nun werden Stimmen laut, die hier angesichts der enormen Kosten für einen Rückbau plädieren.

Das würde ich für falsch halten, weil zum Weiterbau der europäischen Integration auch der Sicherheits- und Verteidigungsbereich gehören muss, ansonsten bleiben wir außenpolitisch im Niemandsland stecken. Faktum ist, dass sich der Europäische Ra, also das höchste EU-Gremium, seit 2008 wohl kein einziges Mal ernsthaft mit Fragen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik befasst hat. Die Finanz- und Schuldenkrise hat alle anderen Themen überragt. Für den EU-Gipfel im Dezember soll dieses Thema nun erstmals wieder auf die Tagesordnung kommen - und alle beraten jetzt, welche konkreten Themen dort besprochen werden sollen. Nach meiner persönlichen Überzeugung liegt für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in der aktuellen Finanzkrise eine große Chance; wenn wir diese in den kommenden Jahren nicht nutzen, dann haben wir einen großen Fehler gemacht. Falls die Kleinstaaterei der 19. Jahrhunderts, die in diesem Bereich bis heute fortgeschrieben wird, auch in Zukunft den Ton angibt.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo sich Pooling & Sharing positiv auswirken würde?

Nehmen Sie die Ostsee, hier sind bis auf Russland alle weiteren acht Anrainerstaaten Mitglieder der EU, aber jeder hat seine eigenen Seestreitkräfte. Warum gibt es nicht eine EU-Ostseeflotte, wo meinetwegen der Admiral jedes Jahr wechselt? Das würde zu enormen Einsparungen und Effizienzsteigerungen führen, zumal es hier ja nicht um Kriegsführung, sondern um Umweltschutz, Schmuggelei und dergleichen geht. Niemand würde etwas verlieren, aber alle gewinnen. Stellen Sie sich vor, ein europäischer Verteidigungsminister könnte vor seine Bürger treten und sagen: "Bei mir bringt Europa nicht mehr Bürokratie, sondern Einsparungen!" In diesem Bereich liegt auch politisch ein bisschen Musik, daraus könnte man durchaus etwas machen. Wenn wir hier Fortschritte erreichen, wäre das auch ein Mittel gegen den EU-Frust der Menschen.

War vor diesem Hintergrund die Entscheidung pro Wehrpflicht in Österreich nicht kontraproduktiv?

Es wäre auch kein Unglück gewesen, wenn Deutschland an der Wehrpflicht festgehalten hätte. Für mich überwiegen aber die Argumente für Berufssoldaten.

Die Münchner Sicherheitskonferenz widmete sich bei ihrer 49. Auflage im Februar zum Großteil dem transatlantischen Verhältnis. Sind nicht die Beziehungen zwischen Europa und den USA nicht ein Relikt des 20. Jahrhunderts, während sich das 21. Jahrhundert um Asien dreht?

Einspruch! Die transatlantischen Investitionsbeziehungen machen ein Vielfaches von dem aus, was da zwischen der EU und Asien oder den USA und Asien stattfindet. Mark Twain war es, der gesagt hatte: "Der Bericht über meinen Tod war eine starke Übertreibung." Das gilt auch für das transatlantische Verhältnis.

Und unsere Asien-Politik?

Die transatlantische Arbeitsteilung in Asien kann wohl nicht so sein, dass die USA die Schlachtschiffe schicken und wir die Mercedes. Wir müssen uns als Europäer fragen: Wie kann eine europäische Asien-Politik aussehen? Natürlich wollen wir keine Schlachtschiffe dorthin schicken, die Fähigkeit haben wir ja auch gar nicht. Die EU sollte sich aber sehr wohl zum Streit zwischen China und Japan über die Senkaku/Diaoyu-Inseln äußern.

Europas Sicht unterscheidet sich von jener der USA . . .

In den USA ist die Neigung ausgeprägt, das Verhältnis zu China als ein militärisches Rivalitätsverhältnis zu definieren und China jetzt schon so zu betrachten wie die Sowjetunion vor 30 Jahren. Hier sehe ich tatsächlich eine mögliche europäische Rolle: nämlich dafür zu plädieren, dass man China zunächst einmal als strategischen Partner betrachtet und nicht ohne Not auf militärische Rivalitäten setzt.

Wie sieht es mit Mali aus?

Schade, dass im Fall von Mali die EU-Battlegroups keine Rolle übernommen haben. Aber das Problem geht tiefer: Das Bekämpfen der Terroristen in Mali ist sicherlich wichtig. Genauso wichtig wäre es aber, einen Grenzzaun zwischen Mali und Tschad zu errichten. Man muss in die Region nicht nur Panzer entsenden, sondern wir brauchen Zöllner und Polizisten, die die Grenzen sichern, das würde zur Stabilisierung der Region beitragen.

Mit anderen Worten: Europa ist auf Jahrzehnte in diesem Raum strategisch gebunden.

Ja. Wir müssen den Maghreb und die angrenzenden Landstriche zu einer strategischen Priorität machen, sonst schwappen die Stabilitätsrisiken vom südlichen Mittelmeer zu uns herüber.

Zur Person



Wolfgang Ischinger,

geboren 1946, ist seit 2008 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, dem wichtigsten Treffen von Sicherheitspolitikern, Militärs und Rüstungsfirmen. Der deutsche Diplomat war zuvor Botschafter in London und Washington. Ischinger war auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen in Wien.