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Der "Drachenbär"

Von Velina Tchakarova

Gastkommentare

Die Rivalen China und Russland verfolgen auch gemeinsame Interessen.


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Als ich bereits 2015 die wichtigsten globalen Trendentwicklungen und den zukünftigen Machtwettbewerb erforschte, prägte ich den Begriff des "Drachenbären", um die Wahrscheinlichkeit des Entstehens höchstrangiger systemischer Beziehungen und eine umfassende Annäherung zwischen China und Russland in verschiedenen Schlüsselbereichen zu beschreiben. Der "Drachenbär" ist weder eine Allianz noch eine Scheinehe, sondern eine vorübergehende asymmetrische Beziehung, in der China überwiegend tonangebend ist. Solange es ein gemeinsames Interesse gibt, den Einfluss der USA in allen Bereichen zurückzudrängen, wird die systemische Koordinierung verschiedenster Maßnahmen zwischen China und Russland trotz der sich abzeichnenden Spannungen in Bereichen, in denen sich die jeweiligen nationalen Interessen überschneiden, fortgeführt werden.

Einfluss der USA und Europas in Eurasien minimieren

Der wichtigste gemeinsame Nenner ist nicht nur das Ziel, sich den USA entgegenzustellen, sondern auch die Schaffung einer bedeutsamen eurasischen Landroute als Reaktion auf die maritime Dominanz der USA im indopazifischen Raum, um damit die Versorgungssicherheit im Falle künftiger Blockaden der Seewege sicherzustellen. Moskau und Peking verfolgen das gemeinsame Ziel, den Einfluss dritter Akteure, insbesondere der USA und Europas, in Eurasien zu minimieren.

In gewisser Weise sind sie freilich Rivalen; daher vermeiden sie es bewusst, Themen anzusprechen, die historische Feindseligkeiten betreffen oder ernsthafte Spannungen in ihren bilateralen Beziehungen auslösen könnten. Nach der Isolation Russlands im Westen (Georgien-Krieg 2008, Ukraine-Krieg 2014) sowie dem neu entstehenden Wettbewerb zwischen den USA und China verlagerten sich ihre Beziehungen hin zu einer umfassenden Koordinierung in verschiedenen Bereichen.

China und Russland haben ihre langjährigen Territorialstreitigkeiten beigelegt und ihre gemeinsame Grenze einvernehmlich festgelegt. Ihren bilateralen Beziehungen dürften also weder territoriale Ansprüche noch Grenzstreitigkeiten schaden. Obwohl beide in territoriale Konflikte mit Drittländern verwickelt sind, versuchen sie nicht, einander diesbezüglich gegenseitig zu belehren.

Konflikte von Zentralasienbis Lateinamerika möglich

Potenzielle Konfliktpunkte zwischen Russland und China betreffen die geografische Priorisierung und die sich überschneidenden geopolitischen Interessen. Russland ist eine regionale Macht mit Atomwaffen von globaler Reichweite sowie geopolitischen und geoökonomischen Interessen von der Arktis über die eurasische Landmasse bis zum Mittleren Osten. Es gibt eine verfestigte russische Angst vor einer chinesischen Einflussnahme in Zentralasien, im Fernen Osten und in anderen traditionellen Einflusssphären wie dem Balkan, Osteuropa und dem Rest des postsowjetischen Raums. Darüber hinaus können Afrika und bis zu einem gewissen Grad auch Lateinamerika zu Konfliktzonen werden.

Im Energiesektor überschneiden sich ihre Interessen allerdings nicht, da Russland einer der größten Öllieferanten ist, während China die Liste der Länder mit den größten Ölimporten anführt. Eine Energieabhängigkeit wie zwischen Russland und Europa könnte kurz- und mittelfristig entstehen, da Russland zunehmend die Rolle übernimmt, China über verschiedene Pipelines mit Öl und Erdgas zu versorgen und damit zugleich sein Energieportfolio diversifiziert. Bilateral geht es vor allem um die Koordinierung von Maßnahmen in den Bereichen Energie, Agrarhandel, Sicherheitspolitik, internationale Organisationen sowie Transitkorridore von China über Russland nach Europa.

Der Prozess zunehmender Polarisierung und Spaltung der globalisierten Netzwerke und Strukturen steht unmittelbar bevor und wird sich durch die systemische Rivalität zwischen China und den USA intensivieren, während alle bedeutenden regionalen Akteure und Trittbrettfahrer (einschließlich Russland) sich früher oder später positionieren werden müssen. Russland hat die Gelegenheit genutzt und eine strategische Zweckgemeinschaft mit China aufgebaut, seitdem es aufgrund des Ukraine-Kriegs im Westen isoliert ist. Weder die USA noch China wollen, dass Russland Teil des gegnerischen Blocks ist. Aus Chinas Sicht wäre eine Ad-hoc-Partnerschaft Russlands mit den USA das Worst-Case-Szenario. Umgekehrt würde Russland keine chinesische Vorherrschaft im Sinne eines "Pax Sinica" in Eurasien und Gebieten dulden, die seit Jahrhunderten der Einflusssphäre des Kreml zuzuordnen sind.

Beim "Drachenbären" geht es darum, aufkommende Umwälzungen in allen Bereichen auszugleichen - von der Weltwirtschaft, dem Finanz- und Handelswesen über Diplomatie und politischen Partnerschaften bis hin zu militärischen, verteidigungspolitischen und strategischen Bündnissen. Beiden Staaten ist klar, dass sich die Welt in einer Systemtransformation befindet, deren Ergebnisse unvorhersehbar sind und deren Auswirkungen für Russland und China sehr gefährlich sein könnten. US-Präsident Trump wird versuchen, China und Russland gegeneinander auszuspielen und sich Russland zu nähern. Und er wird versuchen, die EU und die Nato-Institutionen zu spalten, weil er nicht an Blöcken interessiert ist, sondern an bilateralen Abkommen, Partnerschaften und Bündnissen mit einzelnen Staaten, die loyal zu den US-Interessen stehen und seiner Agenda entsprechen.

Putin und Xi treiben die Beziehungen voran

Die chinesisch-russischen Beziehungen werden auf höchster Ebene - zwischen den Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping - vorangetrieben, ungeachtet bestehender Spannungen auf den unteren Ebenen vor Ort (so gibt es in Kasachstan bereits Bedenken wegen der überwältigenden chinesischen Präsenz in allen Bereichen, insbesondere durch Kredite, Investitionen und Geschäftsaktivitäten, während die politische Elite immer noch sehr von Russland beeinflusst ist). Die beiden Länder haben allerdings Schwierigkeiten damit, ihre Wirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren, indem sie potenzielle Geschäftsinteressen identifizieren und direkt Vereinbarungen auf höchster Ebene arrangieren, aber weder das Handelsvolumen noch die Wirtschaftsbeziehungen wurden bisher umfassend ausgebaut (der Trend ist jedoch positiv).

China hat Interesse an einer Rüstungskooperation mit Russland aufgrund des möglichen Transfers fortschrittlicher Technologien und hochentwickelter Waffensysteme durch Russland. Eine zunehmende militärische Kooperation ist auch die Grundlage für die strategischen bilateralen Beziehungen. Gemeinsame Militärübungen und erste gemeinsame Luftpatrouillen finden bereits statt, um eine bessere Interoperabilität zwischen den Streitkräften sicherzustellen. Weiters haben Russland und China gemeinsame Marineübungen im Mittelmeer und im Japanischen Meer durchgeführt. Die sicherheitspolitische Kooperation entwickelt sich auch innerhalb der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, deren Rolle als aufstrebende regionale Organisation nach den Beitritten Indiens und Pakistans wächst.

Russland braucht aufgrund seiner Isolation im Westen einen mächtigen Verbündeten, während China einen verlässlichen Juniorpartner sucht, um seinen internationalen Einfluss zu stärken. Diese Beziehung wird sich vertiefen, aber nicht unbedingt ausschließlich aufblühen, je nach dem Erfolg von Chinas Aufstieg. Es liegt im Interesse beider Länder, den Eindruck einer stabilen und widerstandsfähigen Allianz gegen den Westen zu schaffen. Derzeit wird über ein Abkommen zur Kooperation im Verteidigungsbereich verhandelt, aber es gibt keine eindeutigen Signale für ein Verteidigungsbündnis zwischen den beiden Mächten. Die Annäherung scheint eher taktischer als strategischer Natur zu sein. Auch die Erhaltung des Status quo wäre wohl für beide Staaten akzeptabel, solange Chinas Aufstieg keine direkte Bedrohung für Russlands strategische Interessen entlang der geografischen Einflusssphäre darstellt.

Europa zwischen den USA, China und Russland

Europa erkennt die sich abzeichnende bipolare Struktur des globalen Systems mit den Hegemonialmächten USA und China mittlerweile an. Die EU erklärte China sogar zum "systemischen Rivalen", aber sie wird sich mit einem viel selbstbewussteren China und einem US-Präsidenten Trump, der vermehrt auf Handelsungleichgewichte hinweist und europäische Verteidigungsausgaben kritisiert, auseinandersetzen müssen. Russland wird zwar militärisch eine Großmacht bleiben, aber mangels ökonomischem Potenzial in der Weltwirtschaft keine Schlüsselrolle spielen. Allerdings wird es auch künftig globale Angelegenheiten formen, indem es die eurasische regionale Integration vorantreibt und strategische Allianzen bildet.

Die EU ist eindeutig gefordert, aus ideologischen und sicherheitstechnischen Gründen angemessen auf das Entstehen dieser beiden derzeitigen Systempole (USA und China) zu reagieren. Darüber hinaus könnten diese Entwicklungen das EU-Projekt gefährden, indem sie neue Trennlinien zwischen den EU-Mitgliedern entlang der Interessen der USA und Russlands auf dem Alten Kontinent schaffen. In diesem Sinne müssen die EU und ihre Mitglieder die europäischen Interessen an die erste Stelle setzen, um durch die komplexen Dreiecksbeziehungen zwischen den USA, China und Russland in der sich abzeichnenden bipolaren Weltordnung zu navigieren.

Die EU-Staaten werden von den globalen und regionalen Märkten verdrängt, dies betrifft auch den weltweiten BIP-Anteil, Handels- und Wirtschaftspartnerschaften, globale Lieferketten, internationale und regionale Organisationen usw. Europa sollte angesichts der wachsenden systemischen Rivalität zwischen den USA und China keine Partei ergreifen und sich in einzelnen Fragen auch nicht spalten lassen, sondern einen europäischen Mittelweg verfolgen. Dabei sollte sie mit regionalen Akteuren wie etwa Japan, Indien usw. zusammenarbeiten, um das Machtgleichgewicht zu halten.